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Foto: AP /Michel Spingler
Neulich im französischen Fernsehen: ein Familienvater, blond und hohlwangig, ein kleines Kreuz baumelt am Ohrläppchen, seine schweigsame, pummelige Frau, zwei kleine Kinder, die am Boden spielen. Der Mann erklärt, dass es an allem mangelt in seinem Wohngebiet. Der letzte Supermarkt hat vor kurzem geschlossen, nachdem er mehrmals überfallen worden war, ein Kino oder andere Kultureinrichtungen hat es nie gegeben. Die Aufnahme wurde in einem HLM (habitation à loyer moderé) in der nördlichen Banlieue von Paris gemacht. Als ich sie sah, dachte ich an die Zeit, als ich an der Peripherie der Stadt Reims für ein paar Monate eine Wohnung bewohnte, die genauso aussah. Dünne Wände, Blümchentapete, das Ganze von einer Sterilität, die durch Möbel und Teppiche nicht zum Verschwinden gebracht werden kann. Hell, viel zu hell, man fühlt sich ausgesetzt, nicht behaust. Durch die Wohnzimmerflucht fällt der Blick auf eine Flucht von Wohnblocks, die einander gleichen, oder auf die winddurchfegte, karge Ebene der Ile de France, oder auf den Novembernebel.

HLM, billige Wohnungen für Leute mit niederem Einkommen. In Reims standen viele davon leer, es war leicht, eine zu finden. Heute sind die HLM voll belegt, die Wohnungen im Stadtzentrum können sich nur noch Leute mit hohem Einkommen leisten, die Zahl der Zuwanderer und ihrer Kinder hat sich vervielfacht. In den "cités", wie man sie auch nennt, eine schmerzliche Erinnerung an den Ursprung der abendländischen Kultur, an die athenische Demokratie heraufbeschwörend, in den "cités" ist die Arbeitslosigkeit hoch, besonders unter den Jugendlichen, besonders unter den Kindern und Kindeskindern der afrikanischen Zuwanderer, von denen die meisten wiederum aus Nordafrika stammen.

Seit Ende Oktober brennen in solchen Gegenden Nacht für Nacht Autos, manchmal auch Häuser, Remisen, Schulen, Kindergärten. Gewalt gegen Sachen, nicht nur gegen die Symbole des Reichtums (deren Besitzer meist gar nicht reich sind), sondern auch gegen Einrichtungen, die der Allgemeinheit zugute kommen sollen. Manchmal auch Gewalt gegen Personen: Ein Pensionist, der auf der Straße nach dem Rechten sehen wollte, musste mit dem Leben bezahlen. Die Jugendlichen, die in den Vorstädten randalieren, viele von ihnen minderjährig, sind die Ausgeschlossenen einer Gesellschaft, zu der sie gehören wollen und gegen die sich ihr Hass richtet. Um reüssieren zu können, ist Bildung nötig (in der nördlichen Banlieue wurden auch Universitäten gegründet), aber die Schule ist für viele dieser Jugendlichen der Ort, an dem sie Zwang und Erniedrigung erfahren haben.

Wurde in Westberlin 1968 ein Kaufhaus als Symbol der Konsumgesellschaft in Brand gesteckt, so zünden die banlieuesards Autos an, die sie haben wollen, aber nicht haben können - es sei denn, sie klauen sie. Zwischen dem Abfackeln eines Autos und dem Diebstahl eines Autos ist nur ein hauchdünner Unterschied. Und die Zerstörungswut wartet nicht auf so genannte Krawalle, sie entlädt sich Tag für Tag an Dingen, die gar nichts symbolisieren außer vielleicht die "cité" selbst: Hauswände, Stiegen, Telefonzellen . . .

Die Gesellschaft kann sie nicht brauchen, diese beurs aus kinderreichen Familien, und die beurs zahlen ihre Nutzlosigkeit der Gesellschaft heim. Das hat seine eigene Logik, auch wenn es nach den Maßstäben zivilisierter Vernunft unlogisch ist. Journalisten versuchen mit allen möglichen Tricks und oft vergeblich, mit den jungen banlieuesards in Kontakt zu kommen, um ihre Milieus zu durchleuchten. Die Brandstifter rechnen sie zu denen, die auf der anderen Seite stehen: Polizisten und Feuerwehrleute, Lehrer und Politiker und Medienleute, alle in einen Topf. Sie sprechen ihre Sprache nicht, tragen andere Kleider, eine Kommunikation ist nicht möglich. Tatsächlich hat sich in den Banlieues ein Slang herausgebildet, der sich beträchtlich vom Pariser Französisch und auch von anderen Slangs unterscheidet.

Anfang 2001 ist ein Roman erschienen, der sich dieser neuen Sprache bedient: Ali le magnifique von einem gewissen Paul Smail, über dessen wahre Identität - offensichtlich gebrauchte er ein Pseudonym - Literaturkritiker lange Zeit rätselten. Wie man heute weiß, handelte es sich um die Provokation eines Autors, der dieses Genre zu seinem Fachgebiet gemacht hat. Erstaunlich, dass viele, auch manche lesewillige beurs, das Ding für bare Münze nahmen. In dem Roman geht es um einen Jugendlichen, der vier Frauen umbringt, darunter seine ehemalige, von ihm angebetete Lehrerin.

Der Plot orientiert sich am Fall eines arabischstämmigen Serienmörders, der im Jahr 2000 in Lissabon gefasst wurde (auch Ali flieht nach Lissabon). Er ist aber weniger interessant als die Sprache und die Haltung der Hauptfigur, die eine regelrechte Konsumreligion entwickelt, wobei die Objekte seiner Begierde in etwa dem entsprechen, was bei jungen beurs beliebt ist: hochwertige Kunstfaserkleidung, Rolex-Uhren, BMW. Der Autor hat dem Volk wahrhaftig aufs Maul geschaut.

Sosehr sich der Roman aber an der unmittelbaren französischen Wirklichkeit orientiert, sosehr ist er nach einem literarischen Modell gearbeitet: American Psycho von Bret Easton Ellis, ein Buch, das viele europäische Jungautoren beeinflusst hat. Schon Ellis hat Konsumwahn, geistige Leere und Gewalttätigkeit miteinander verschränkt, wenngleich die Erklärung in seinem Roman psychologisch ist und das gesellschaftliche Milieu ein gehobenes. Offenbar hat Ellis schon damals, um 1990, den Nerv einer Zeit getroffen, die sich nicht in nationalen Bahnen bewegt. Zwischen den Unruhen im Stadtteil South Central (1992) in Los Angeles und denen in der Pariser Banlieue (2005) sind nicht so viele Unterschiede.

Paul Smail hört übrigens, das sei hier der Vollständigkeit halber hinzugefügt, auf den bürgerlichen Namen Jack-Alain Léger, und wie der Name verrät, ist er ein guter Franzose, der sich wie viele gute Franzosen vom Islam bedroht fühlt. Seine jüngsten Pamphlete tragen Titel wie A contre CORAN und Tartuffe fait ramadan (in etwa: "Der Heuchler feiert Ramadan").

Nach zwei Wochen nächtlicher Unruhen und tausenden ausgebrannten Autos wurde in Frankreich ein Notstandsgesetz aus dem Jahr 1955 reaktiviert. Es stammt aus einer Zeit, da bewaffnete Gruppen in Algerien mit terroristischen Mitteln für die Unabhängigkeit des Landes kämpften und einen Krieg auslösten, mit dem sie 1962 ihr Ziel erreichten. Albert Camus, 1913 in Alger als Kind französischer Eltern geboren (der Vater, ein einfacher Landarbeiter, starb als Soldat zu Beginn des Ersten Weltkriegs), setzte sich damals für einen Waffenstillstand und, in weiterer Perspektive, für ein Miteinander der französischen und der arabischen Algerier ein. Die Unabhängigkeit, zur gleichen Zeit unter anderem von Sartre gefordert, war für ihn undenkbar, sein Ansinnen zum Scheitern verurteilt.

Camus kannte die elenden Lebensbedingungen der arabischen, moslemischen Algerier; als junger Autor und Journalist hat er sie 1939 in der Reportage Misère de la Kabylie beschrieben. Während der bürgerliche Sartre von Paris aus seine weltpolitischen Ideen umzusetzen versuchte, blieb Camus stets in Tuchfühlung zu den Lebensbedingungen der Betroffenen (Dennoch ist es ein wenig befremdlich, dass er kein Arabisch sprach und für seine Reportagen auf Dolmetscher angewiesen war).

Schon vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in den Dörfern Algeriens viele Familienväter, die sich in Frankreich verdingten, um ihre Familien ernähren zu können. Ob zu Hause oder in Frankreich, die Araber waren Menschen zweiter Klasse, und im kolonialen "Vaterland" ist das noch heute vielfach so, die Aufstiegschancen sind gering. Durch die Anwendung jenes Gesetzes aus dem Jahr 1955 wurden viele beurs, für die Algerien ein fernes, rückständiges Land ist, nach dem sie keine Sehnsucht verspüren, überhaupt erst darauf aufmerksam gemacht, dass zwischen ihnen und ihren Eltern und Großeltern womöglich kein so großer Unterschied besteht, was die gesellschaftliche Stellung betrifft.

Auf der einen Seite ist die blinde, sprachlose Gewalttätigkeit, die genauso wenig Perspektiven schafft wie die Gesellschaft, die eine ganze Bevölkerungsgruppe nicht haben will, das Ergebnis des Zerfalls der arabischen Familienstruktur und ihrer traditionellen Werte. Auf der anderen Seite stellen sie jetzt fest, dass es ihren Vorfahren nicht anders ergangen ist als ihnen selbst. Was sie vermutlich nicht bemerken, ist, dass sie auch einen Teil der alten Werte weitertragen: den machismo, die autoritären Gesten und Kommunikationsformen, wie sie der Rap als Kunst- und Lebensform kodifiziert, die Marginalisierung der Frau (an den Unruhen im Herbst 2005 waren keine Mädchen beteiligt).

Nicht, dass sie ihren Vorfahren gleichen. Selbstverständlich sind Transformationsprozesse im Gang, aber was dabei entsteht, ist etwas Neues, in dem alte Elemente fortbestehen. Die Frage ist nicht, ob sich die Nachkommen der nordafrikanischen Zuwanderer für ein westliches oder für ein orientalisches (islamisches) Modell entscheiden. Die beurs und beurettes assimilieren sich, und sie assimilieren sich zugleich nicht. Der Historiker Emmanuel Todd äußerte in einem Interview in Le Monde die Meinung, die Brandstifter der Banlieues würden heute die alten revolutionären Forderungen - Gleichheit und Freiheit - aufs Tapet bringen und sich insofern als Kinder der französischen Republik erweisen.

Das scheint mir eine vereinfachte Sichtweise zu sein. Zweifellos sind sie Kinder der westlichen Zivilisation, aber sie vertreten nicht in erster Linie die strahlenden Werte einer großen Vergangenheit, sondern die etwas weniger großartigen, aber umso realeren Werte des Konsumismus, des Habenwollens, des Kampfes gegen den Nächsten, gegen die konkurrierende Gruppe, gegen den Einzelnen, der dir im Weg steht.

Die Krise der französischen Vorstädte ist durch die schleichende Entsolidarisierung in der westlichen Welt mit bedingt, aber die Protagonisten vertreten im Grunde genommen das, was die Ideologie des Neoliberalismus jahrelang gepredigt hat. Nur die Mittel gefallen den Bessergestellten, die Autos kaufen, statt sie anzuzünden oder zu klauen, nicht. Camus ist heute nicht mehr und nicht weniger als ein ehrenwerter Vorläufer, wenn es darum geht, nach möglichen Formen des Zusammenlebens zu suchen. Seine Problemstellungen erwuchsen der kolonialen Epoche, an der er auf fast sentimentale Weise hing.

Postkoloniale Verhältnisse, wie sie heute Realität sind, mochte er sich nicht vorstellen. Der Postkolonialismus hat uns Europäer unweigerlich mit den Problemen von Zuwanderung und Integration konfrontiert. Wie Jacques Derrida, der ebenfalls in Algerien aufgewachsene, jüdischstämmige Philosoph, in seinem Buch über die Gastfreundschaft ausführt, sind wir es gewohnt, Toleranz in christlichem Sinn zu denken: Der Zuwanderer wird nicht mitsamt seiner Kultur und Sprache toleriert, er muss vielmehr seine Andersheit auslöschen, um als Mitglied unserer Gesellschaft angenommen zu werden. Unsere Toleranz ist in Wahrheit nicht universell, sondern begrenzt, sie stellt Bedingungen.

Derrida räumte ein, dass es schwierig ist, eine erweiterte Toleranz zu verwirklichen. Hinzuzufügen ist, was die hohe Philosophie nicht bedenkt: Solange wir nicht in der Lage sind, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwüstungen aufzuhalten, die nicht allein die französischen beurs betreffen, werden alle diese Versuche umsonst sein. Die Aussichten auf den Bürgerkrieg, die Hans Magnus Enzensberger vor mehr als zehn Jahren ankündigte, sind inzwischen Wirklichkeit geworden. Der Ausnahmezustand hat 1955 keinen Frieden gebracht; er wird auch heute keinen bringen. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 19./20.11.2005)