Straßburg - In einem mehrstündigen Abstimmungsmarathon hat das Europaparlament am Donnerstag mit großer Mehrheit für eine gänzliche Neugestaltung der EU-Chemikalienpolitik gestimmt. Das Parlament sieht in seiner ersten Lesung allerdings viele Erleichterungen für die Chemieindustrie gegenüber dem ursprünglichen Vorschlag der EU-Kommission für die geplante Chemikalienverordnung (Reach) vor. Gleichzeitig sprach sich das Parlament für eine fixe Frist von 5 Jahren aus, innerhalb derer besonders gefährliche Substanzen durch Alternativen ersetzt werden müssen.

Nun sind die Mitgliedstaaten, konkret der Rat der Wettbewerbsminister am Zug. Sei werden nächste Woche bei ihrem Treffen in Brüssel über Reach - kurz für Registrierung, Evaluierung, Autorisierung von Chemikalien - diskutieren und sollen sich laut Zeitplan der britischen EU-Präsidentschaft noch in diesem Jahr politisch einigen. Parallel zu den Arbeiten im Parlament hat der Rat ebenfalls an einem Kompromiss gearbeitet, der in vielen Punkten nahe an der Position des Parlaments ist. Dann muss das Parlament in zweiter Lesung neuerlich über Reach befinden. Akzeptiert der Rat diese, ist die Verordnung beschlossen, wenn nicht, käme es zu einem so genannten Vermittlungsverfahren. Im Parlament rechnet man damit, dass ein Beschluss, allein wegen des Umfangs des neuen Regelwerks frühestens Ende 2006, eher Anfang 2007, möglich ist.

Allein der Entwurf der EU-Kommission aus 2003 hatte mit allen Anhängen rund 1.300 Seiten. Bei der Sitzung im Parlament kamen mehr als 1.000 Änderungsanträge zur Abstimmung, die acht Bände umfassten. Rechnet man auch die 10 mit Reach befassten Ausschüsse des Parlaments mit, gab es insgesamt fast 5.000 Änderungsanträge.

Neue Chemie-Agentur

Letztlich sprachen sich 407 Europaabgeordnete für und 155 gegen das neue Regelwerk aus. Im Vorfeld hatten sich die großen Fraktionen, Konservative, Sozialdemokraten und Liberale auf einen Kompromiss bei der künftigen Registierungspflicht für alle Chemikalien über 1 Tonne geeinigt, gegen die die Chemieindustrie Sturm gelaufen war. Für Substanzen, von denen weniger als 10 Tonnen pro Jahr erzeugt oder importiert werden, sollen nur schlichte chemisch-physikalische Grunddaten an die neue Chemie-Agentur mit Sitz in Helsinki gemeldet werden, außer es besteht der Verdacht, dass die Substanzen schädlich für Umwelt oder Gesundheit sein könnten.

Gleichzeitig setzten sich die Grünen, Liberalen und Vertreter der Linken mit ihrem Antrag durch, eine fixe Frist von fünf Jahren für die Zulassung von besonders gefährlichen Stoffen einzuführen. Im Rat und in der EU-Kommission geht der Konsens derzeit zwar ebenfalls in Richtung einer Autorisierungsfrist - allerdings soll diese von Fall zu Fall entschieden werden. Umweltkommissar Stavros Dimas bezeichnete die Abstimmung als "historische Entscheidung", die Details müssten aber erst in der Kommission besprochen werden.

Kritik an Ausnahmen

Die Grünen sprachen nach dem Votum von "Licht und Schatten", Greenpeace kritisiert die Ausnahmen bei der Registrierung für "tausende Chemikalien". Die österreichischen EU-Abgeordneten beurteilten das Parlamentsvotum unterschiedlich. Der ÖVP-Abgeordnete Richard Seeber sah dies als "großes Stück in die richtige Richtung, während die Grüne EU-Parlamentarierin Eva Lichtenberger betonte, sie sei "sehr unzufrieden". Die SPÖ-Parlamentarierin Karin Schelle unterstrich, dass dieses Reach zwar "besser als der Status Quo" sei, sie es sich aber strenger gewünscht hätte.

Hintergrund

Die neue Verordnung zielt darauf ab, rund 30.000 chemischen Substanzen innerhalb einer maximalen Frist von 11 Jahren auf ihre Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit hin zu überprüfen und bei einer neu zu schaffenden Agentur in Helsinki registrieren zu lassen. Für besonders gefährliche Stoffe, wie etwa krebserregende, erbgutschädigende oder allergene Substanzen, ist eine Zulassung notwendig. Auch für gefährliche chemische Substanzen in Artikeln von Textilien bis Computer soll es eine Informationspflicht in Helsinki und für die Konsumenten geben. (APA)