"Sehr zuversichtlich, dass diese Konferenz das Verständnis zwischen Ost und West, zwischen Islam und Europa verbessern wird": Jalal Talabani in der Wiener Hofburg.

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STANDARD: Am 15. Dezember stehen die Parlamentswahlen im Irak an. Werden sich dieses Mal alle Gruppen beteiligen?

Talabani: Diese Wahlen werden viel repräsentativer für das irakische Volk sein, weil sich diesmal die sunnitischen Araber beteiligen. 224 Kandidatenlisten befinden sich jetzt im Wahlkampf. Natürlich werden nicht alle ins Parlament kommen. Aber im neuen Parlament wird es keine absolute Mehrheit geben, keine einzelne Partei wird alles dominieren. Die schiitische Gruppe, die sich "United Coalition Front" nennt, wird wohl die stärkste Gruppe sein, aber keine mit absoluter Mehrheit.

Die haben sie eigentlich auch im jetzigen Parlament nicht. Die Schiiten kamen auf 48 Prozent. Aber weil die Sunniten nicht mitgemacht haben, haben wir (die Kurden, Anm.) auch fünf Sitze dazubekommen, die Schiiten zwölf.

Diesmal wird es das nicht geben. Der größte Block nach den Wahlen wird wohl die Coali^tion Front sein, der zweitgrößte der kurdische Block, der dritte Platz ist offen zwischen Iyad Allawi (Expremier, Anm.) und dem neuen liberalen Block von Schiiten unter der Führung von Ahmed Chalabi, die jetzt Unterstützung von denen bekommen, die unzufrieden sind mit der Arbeit der Schiiten in der Regierung.

Und es gibt die Gruppe der arabischen Sunniten. Aber die Sunniten sind nicht vereint. Es gibt zwei oder drei Hauptgruppen. Eine davon ist gemäßigt, und ich glaube, dass es unter den Sunniten die stärkste Gruppe ist. Und dann werden wir sehen. Nach den Wahlen werden Koalitionen gebildet werden müssen, es wird Kooperation gesucht werden, es wird ein Konsens zwischen den verschiedenen Gruppen gefunden werden müssen.

STANDARD: Wie wird der Revisionsprozess der Verfassung laufen? Ist eine Änderung dieses Verfassungstextes nötig?

Talabani: Ich glaube, die Verfassung ist fertig. Ich glaube nicht, dass es eine Möglichkeit gibt, grundsätzliche Punkte zu verbessern oder abzuändern. Aber dieses Versprechen wurde den sunnitischen Arabern gegeben, um ihnen einen Vorwand zu geben, dass sie am Prozess und an den Wahlen teilnehmen können. Sie werden sicher versuchen, im nächsten Parlament einige Artikel zu verbessern, aber die Mehrheit wird das ablehnen.

STANDARD: Aber die Sunniten werden trotzdem im politischen Prozess bleiben?

Talabani: Genau darum geht es. Sie sind in den Prozess eingestiegen und werden drinbleiben. Das wird eine Art Wiedervereinigung aller irakischen Kräfte sein.

STANDARD: Sie sagen, die grundsätzlichen Punkte in der Verfassung bleiben erhalten. In welchen Bereichen kann es Änderungen geben?

Talabani: Ich erwarte überhaupt keine Änderungen. Denn alle Änderungen führen zu einem neuen Referendum. Aber es wird natürlich Diskussionen geben, weil jede Gruppe mit irgendetwas in der Verfassung nicht zufrieden ist.

STANDARD: Sie meinen aber, keiner bekommt hundert Prozent von dem, was er will.

Talabani: Ja.

STANDARD: Glauben Sie, der irakische Zentralstaat wird mit dieser Verfassung stark genug sein, um den Irak vereint zu halten?

Talabani: Das föderale System heißt, Kompetenzen und Reichtum unter den Irakern aufzuteilen. Vor allem die Kurden bestehen darauf, dass kein neues totalitäres Regime entstehen kann, indem Bagdad alle Teile des Irak kontrolliert. Aber sicher wird die Zentralregierung stark genug sein. Die Zentralregierung hat - laut der neuen Verfassung - eigentlich mehr Kompetenzen als vorher.

Aber auch die Regionalregierungen haben ihre eigenen Kompetenzen, sie können ihren eigenen Präsidenten haben, ihre eigenen Regeln. Das heißt, dass die Kompetenzen unter den einzelnen Volksgruppen verteilt werden. Danach, denke ich, werden die Schiiten ihre eigene Föderation bilden. Und Bagdad wird eine Föderation sein, Bagdad und Umgebung. Wenn die Sunniten ihre eigene Föderation haben wollen, dann ist es gut, aber sie können auch in Provinzen bleiben. Aber im Endeffekt erwarte ich vier Regionen im Irak: Kurdistan, den schiitischen Süden, Zentralirak und den westlichen Teil.

STANDARD: Aber Sie treten stark für einen vereinten Irak ein, auch wenn er eine Konföderation werden sollte.

Talabani: Es ist unmöglich, den Irak zu teilen. Weder die Iraker noch die Region und die Nachbarn werden das akzeptieren. Es ist unmöglich. Die Iraker sind gezwungen, zusammenzuleben. (DER STANDARD, Print, 17.11.2005)