Berlin/Frankfurt - Der deutschen Wirtschaft gehen die Reformen im Koalitionsvertrag von Union und SPD nicht weit genug. Nach Ansicht von Volkswirten reichen die Pläne der großen Koalition nicht für einen wirtschaftlichen Aufschwung und eine Besserung am Arbeitsmarkt aus.

Besonders hart von vielen Seiten wurde die für 2007 angekündigte Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent kritisiert. Teilweise wird für 2006 ein Wachstumsschub durch vorgezogenen Konsum erwartet, unter anderem in der Autoindustrie. Verurteilt wurde auch die so genannte "Reichensteuer".

Grundlegende Reformen fehlen

Nach Ansicht der DekaBank fehlen grundlegende Reformen am Arbeitsmarkt und im Gesundheitswesen. "Die Vereinbarung ist zu kurz gesprungen, es fehlt eine Linie", sagte Chefvolkswirt Ulrich Kater am Montag. "Der Konsument wird durch die Mehrwertsteuer-Erhöhung schockiert." 2006 würden die Deutschen voraussichtlich in Erwartung der Steuererhöhung mehr kaufen und den Konsum ankurbeln.

Deshalb hob die Bank ihre Wachstumsprognose für 2006 leicht auf 1,5 Prozent an. Die Erhöhung werde aber ein "Bumerang" sein, "der 2007 zurückkommt". Die leichte Absenkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung sei keine ausreichende Kompensation für drei Mehrwertsteuerpunkte.

"Mehrwertsteuererhöhung ist falscher Schritt"

Das Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen erklärte die Mehrwertsteuererhöhung für den falschen Schritt zur Haushaltskonsolidierung. "Der Druck auf die Ausgabenseite wird gemindert und damit der Zwang zu weiteren Einsparungen", sagte RWI-Experte Rainer Kambeck.

Hinzu kämen negative Effekte für die Konjunktur. Nach RWI-Berechnungen würde eine Familie mit zwei Kindern bei einem monatlichen Nettoeinkommen von 4.000 Euro um 408 Euro jährlich mehr belastet. Auch der Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, sagte, er habe "Bauchschmerzen" bei der Verwendung der Mehrwertsteuer-Erhöhung.

Zustimmung und Kritik aus Bankenkreisen

Von der Bankenbranche gab es Zustimmung und Kritik. Das Ziel der Haushaltssanierung sei zwar "absolut richtig", allerdings seien die Maßnahmen zu wenig miteinander verzahnt, sagte der Präsident des Bundesverbands Deutscher Banken, Klaus-Peter Müller. Der Commerzbank-Chef forderte einen "Big Bang" (Urknall): Man müsse Alle Reformen bei Staatsfinanzen, Arbeitsmarkt, Sozialsystemen und Föderalismus in dieser Legislaturperiode anpacken.

Der Begriff "Reichensteuer" sei "verwerflich und absolut unerträglich" und der zusätzliche Obolus von den Top-Verdienern eine "Anti-Wachstumssteuer". Von 2007 an wird für Einkommen ab 250.000/500.000 Euro (Alleinverdiener/Verheiratete) ein Steuerzuschlag von 3 Punkten fällig.

Unterdessen wird die deutsche Autoindustrie wegen der Mehrwertsteuererhöhung nach Einschätzung des Forschungsinstituts B&D Forecast in den nächsten Jahren ihren Absatz steigern. Die Steuer werde 2006 als Konjunkturprogramm wirken und den Markt auf 3,4 Millionen Fahrzeug-Verkäufe bringen, weil Käufe vorgezogen würden.

Die Belebung werde aber auch 2007 andauern. Die Automobilindustrie verurteilte dagegen die geplante Steueranhebung und fürchtet um ihren Absatz. "Mögliche Vorzieheffekte ersetzen keinen nachhaltigen Aufschwung", sagte der Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Bernd Gottschalk.

Drohende "Spar-Politik" durch Steuer- und Abgabenerhöhung

Das Handwerk beklagte, dass tiefgreifende Reformen vertagt oder ausgeklammert worden seien. Eine "Spar-Politik" durch Steuer- und Abgabenerhöhung drohe, das Wachstum weiter abzuwürgen, warnte der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH).

Die Erhöhung der Mehrwertsteuer sei schädlich und die Abschaffung der Eigenheimzulage wachstumshemmend. Der Linzer Schwarzarbeit-Forscher Friedrich Schneider erwartet eine Zunahme der Schattenwirtschaft. Den stärksten Schub werde die Anhebung der Mehrwertsteuer bringen, sagte er dem "Tagesspiegel" (Dienstag).

Die Baubranche freute sich über die Anhebung der Verkehrsinvestitionen, forderte aber mehr Bewegung bei Unternehmenssteuern. Der mit Umsatzrückgängen kämpfende Einzelhandel kritisierte die Mehrwertsteuererhöhung scharf. Der Automobilclub ADAC beklagte, dass die Ablehnung einer Auto-Maut aus dem Koalitionsvertrag kurzfristig gestrichen wurde. Die Windenergie- Wirtschaft begrüßte, dass der Koalitionsvertrag die notwendige politische Kontinuität bringe.

Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) warnte, dass die höhere Mehrwertsteuer den Osten etwas härter treffen und das Konsumverhalten noch weiter dämpfen werde. Für eine Belebung des Arbeitsmarktes in Ostdeutschland gebe es keine großen Hoffnungen. (APA/dpa)