Doris Schiefer lebt ihren "Traumberuf": Sie ist Therapeutin, Animateurin, Konflikttrainerin, Seelentrösterin, ABC-Trainerin und noch einiges mehr. Sie ist Lehrerin in der Volksschule Krones in Graz.

Foto: Standard/Philipp
Doris Schiefer ist gerührt. Fiona hat ihr einen Brief geschrieben: "Ich hoffe, du kannst bald wieder in die Schule kommen." Fionas Zettel ist zusammen mit all den anderen - mit der Schreib- und Zeichenkunst Achtjähriger gemalten - Zuneigungsbekundungen an die Kastentür im Klassenzimmer geheftet.

Die schlimme Sache mit dem Knie hat die ganze Klasse beunruhigt. "Wenn sie wiederkommt, dürfen wir sie nicht zu stark drücken", empfahl sogar die an sich coole Bubenbande der Klasse.

Erst mit einer Verspätung von zwei Monaten humpelte Frau Schiefer also dieser Tage wieder in die 2b der Grazer Volksschule Krones, nachdem sie sich vom Ausrutscher, der das gesamte Kniegelenk demolierte und sie den Schulstart verpassen ließ, erholt hatte. Richtig nervös sei sie gewesen, wie ihre Kinder im zweiten Schuljahr wohl auf sie reagieren würden. Mit Umarmungen und Zuneigung, wie sich herausstellte.

Doris Schiefer kann sich nicht erinnern, sich selbst je über ihre Lehrer dermaßen gefreut zu haben. Es war die Zeit, als vorne am Podium diese Person der Ehrfurcht stand und dozierte. Seitdem hat sich viel verändert - und "es ist besser geworden", sagt die 52-jährige Pädagogin, die als Einzelkind im "ersten Grazer Hochhaus" aufgewachsen ist. "Für mich ist es heute wirklich besser zu unterrichten als noch vor 30 Jahren, als ich anfing. Das Unterrichten ist vielfältiger und spielerischer geworden. Die Lehrer nehmen sich zurück und lassen den Kindern mehr Raum. Wir gehen heute viel mehr auf die Kinder ein, Lehrer sind den Kindern gegenüber viel sensibler geworden. Wir machen in der Früh den Morgenkreis. Jedes Kind kann von Dingen, die es bedrücken, erzählen. Konflikte, die zu Hause aufgeladen wurden, können abgefangen werden. Wir sind heute fast schon Therapeuten."

Die Kids bekommen auch Zeit. Doppelt so viel wie früher, um Lesen und Schreiben zu erlernen. Buchstaben werden ertastet, gezeichnet, gehört, es wird mit ihnen gespielt. "Das sitzt dann."

Es haben sich ja auch die Kinder verändert, sagt die Mutter dreier erwachsener Kinder. "Die Schüler wissen heute wesentlich mehr. Was sie im Kopf haben, wenn sie in die Schule eintreten, ist enorm. Heute kommen schon viele Kinder mit fertigen Kenntnissen in die Schule, etliche können schon schreiben und lesen. Das ist nicht immer leicht für uns, weil wir im Unterricht da sehr differenzieren müssen."

Einige kommen aber auch mit neuen "Defiziten". Sie wissen zwar die Handynummer, aber nicht ihre Hausnummer. Sie können die Finger perfekt am Gameboy bewegen, aber die Schuhbänder nicht zumachen.

Welt-Klasse

Manchmal, wenn's besonders rund geht, fallen Doris Schiefer Bilder ihrer Anfangsjahre ein - wie sie mit dem Bus um sechs in der Früh in die Weststeiermark pendelte, in der Wiese unterrichtete, in Ruhe. "Heute ist ein ständiges Kommen und Gehen. Frontalunterricht gibt es ja nicht mehr. Wir arbeiten projektbezogen in Kleingruppen. Da ist immer etwa in Bewegung, da kann es schon mal laut werden, aber das ist Arbeitslärm."

Dann holt sich noch die Logopädin ihre Kinder zum Spezialunterricht, der interkulturelle Lehrer kommt zur speziellen Betreuung und die Englischlehrerin ist seit der ersten Klasse auch mit dabei.

Die VS Krones, die "Bilingual Primary School (BIPS)", bietet als einzige steirische Volksschule ab der ersten Klasse Englisch an. Frau Schiefer hat daher den ganzen Globus im Klassenzimmer: Kinder aus Vietnam, Polen, Russland, Türkei, Iran, Irland, Ungarn. "Wir bauen die verschiedenen Nationalitäten spielerisch im Unterricht ein. Wir müssen heute überhaupt viel mehr anbieten als früher. Man wird ja fast zum Animateur. Nach 20 Minuten Beschäftigung sinkt die Aufmerksamkeit, und du musst dir schon wieder was Neues einfallen lassen."

Natürlich braucht es auch "liebevolle Konsequenz". Der Rahmen wird aber heute ganz anders abgesteckt. Schiefer: "Winkerlstehen, das gibt's nicht mehr." Heute ertönt die Klangschale, was so viel heißt wie: "Jetzt müssen wir zuhören." Beim Windspiel gibt es eine Ansage. "Diese Rituale haben sich total bewährt, ich muss nie laut werden", sagt Schiefer, die in den eigenen vier Wänden durchaus den etwas gehobeneren Lärmpegel der 70er-Jahre-Musik genießt.

Sie lebe ihren "Traumberuf", auch wenn nicht alles eitel Wonne sei. Die Schule platzt aus allen Nähten, der Bastelraum schimmelt, Internetanschlüsse sind Utopie, Personalmangel drückt auf die Qualität. Die Grazer Stadtpolitiker sagen: kein Geld für solche Sachen. Die Kinder lernen aber auch damit umzugehen. Zu Schulende protestierten sie mit den Eltern im Gemeinderatssitzungssaal. Mit Erfolg. (DER STANDARD, Walter Müller, Printausgabe, 14. November 2005)