Berlin - Wirtschaftsverbände und Experten halten die von SPD und Union im Regierungsprogramm geplanten Reformen für nicht ausreichend, um mehr Wachstum und Arbeitsplätze zu erzielen. Auch bei den Oppositionsparteien sind die Beschlüsse am Samstag auf ein vernichtendes Urteil gestoßen.

FDP-Chef Guido Westerwelle und die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth sprachen am Samstag angesichts geplanter Steuererhöhungen von Wahlbetrug. Linkspartei-Chef Lothar Bisky kritisierte, die Beschlüsse gingen zu Lasten der sozial Schwachen und Rentner. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt fürchtet nach eigenen Worten trotz einiger positiver Ansätze negative Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung. Verdi-Chef Frank Bsirske bemängelte, das Regierungsprogramm "springe" in wichtigen Feldern zu kurz. Nach Ansicht des Wirtschaftsweisen Bert Rürup wird sich die Arbeitslosigkeit damit nicht nennenswert abbauen lassen.

Zentraler Kritikpunkt: Erhöhung der Mehrwertsteuer

Zentraler Kritikpunkt bei allen ist die Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte. Westerwelle kritisierte, die große Koalition sei kein historisches Bündnis, sondern ein historischer Fehler, der die Deutschen teuer zu stehen kommen werde. "Sowohl SPD als auch Union betrügen mit diesem Koalitionsvertrag ihre Wähler." Die große Koalition sei nur groß bei Steuererhöhungen. Mit ihr gebe es einen Personalwechsel, aber keinen Politikwechsel. Auch Grünen-Chefin Claudia Roth sagte, die gebrochenen Versprechen grenzten an Wahlbetrug. "Die große Koalition der Wahlverlierer wird viele Menschen in diesem Land zu Verlierern machen", sagte sie. Linkspartei-Chef Bisky sagte: "Jetzt wissen wir, was große Koalition heißt: die kleinen Leute müssen zahlen." SPD und CDU bildeten "eine Koalition der alten Ideenlosigkeiten".

"Gefahr für die Wirtschaft"

Arbeitgeberpräsident Hundt sagte, die drastischen Steuer- und Abgabenerhöhung seien eine Gefahr für die Wirtschaft. Die für 2007 vorgesehene Anhebung der Mehrwertsteuer müsse noch verhindert werden. Er habe auch kein Verständnis, dass zwei Drittel der Erhöhung zur Haushaltsfinanzierung verwendet werden sollten. Hundt zog zudem in Zweifel, dass sich mit den Maßnahmen die Lohnnebenkosten unter 40 Prozent drücken lassen. Insgesamt könne er keinen Beitrag erkennen, um Wachstum und Beschäftigung zu unterstützen.

Gemäßigter äußerte sich der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Jürgen Thumann. Der Koalitionsvertrag sei eine Fortsetzung der Reformpolitik mit vielen kleinen Schritten. Die Wirtschaft werde das aber noch nicht entfesseln und neue Jobs würden nicht sofort entstehen. "Aber der Vertrag zeigt noch innerhalb dieser Legislaturperiode Perspektiven auf, dass es allmählich besser werden kann in unserem Land", sagte er der "Bild am Sonntag".

Kritik und sanftes Lob von Verdi

Verdi-Chef Bsirske sagte, das Programm enthalte eine Reihe von positiven Teilelementen wie das Bekenntnis zur Tarifautonomie, das Erziehungsgeld, den Ausbau von Ganztagsschulen und eine erste Korrektur beim Spitzensteuersatz. Unter dem Strich überwögen aber Skepsis und Kritik. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer in der gegenwärtigen Situation sei falsch. Die faktische Abschaffung des Kündigungsschutzes in den ersten zwei Jahren führe zu einer "völlig unnötigen Verunsicherung von Arbeitnehmern" und werde deren Mobilitätsbereitschaft einschränken, fügte Bsirske hinzu.

Rürup nannte die Erwartung unrealistisch, dass durch die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung bis zu 300.000 neue Stellen entstehen werden. Wegen der gleichzeitigen Mehrwertsteuererhöhung werde die Wirkung bei weniger als 90.000 Beschäftigten liegen, sagte er dem Magazin "Focus". Der neuen Regierung fehle ein zentrales Projekt und eine Vision für ein dynamisches Deutschland. (APA/Reuters/AP)