São Paulo ist dreckig, laut, brutal, gefährlich, verarmt: Jedes Jahr werden eine viertel Million Menschen überfallen, zehntausend ermordet, tausend entführt. Mehr als die Hälfte der Einwohner São Paulos lebt im Müll, in vor sich hin modernden Häusern, auf der Straße. Die Flüsse kippen, die Luft ist schlecht, nicht zuletzt wegen der ständigen Verkehrsstaus. Für neue Schulen, Krankenhäuser und Straßen fehlt das Geld. Die Arbeitslosenquote liegt bei 19 Prozent.

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São Paulo ist geschäftig, konsumgeil, luxuriös, grandios: Mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften die Paulistas, die Einwohner São Paulos. Wer reich ist, und davon gibt es abertausende, shoppt in Geschäften, die rund um die Uhr geöffnet sind und deren Gehsteige von Sicherheitsleuten abgeriegelt werden. Unmengen von Geld werden in den Markt für Luxusgüter gepumpt. Die Reichen erheben sich in ihren Villen über den brodelnden Moloch, bauen ihre Refugien auf Wolkenkratzern und erledigen Geschäfte per Helikopter. São Paulo, ein Wahnsinn. Jene, die besser und am besten verdienen, verfügen über die Hälfte des gesamten Volkseinkommens Brasiliens. Aus dieser Stadt schöpfen Humberto und Fernando Campana ihre Inspiration.

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Die beiden Brüder, 52 und 44 Jahre alt, betreiben seit Anfang der Achtzigerjahre ein Designstudio in São Paulo, und wenn sie etwas entwerfen wollen, gehen sie auf Streifzüge, gehen hinaus in die Stadtviertel der kleinen Leute, in denen winzige Kramläden vor Alltagsgegenständen, Schnickschnack, Tand und Tieren überquellen. Sie besuchen die Armenviertel, die Favelas, wo Frauen alte Stoffe und Stoffreste kunstvoll zu Decken und Teppichen weiterverwerten. Die Straßen von São Paulo sind ein Laboratorium für das Campana-Design, sie lieben deren Schönheit und das Chaos.

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Zurück ins Studio kommen sie mit Eindrücken, die besonders Humberto Campana, der Ältere der beiden, braucht wie ein Fisch das Wasser: "Ich kann ohne Ideen nicht leben und fühle mich nur gesund, wenn ich etwas erschaffen kann", sagte Humberto vergangenes Jahr in einem Interview, "Fernando ist präziser und rationaler. Er ist es, der meine Ideen und Obsessionen transponiert und poliert." So sehr hasst Humberto das Business, dass er nicht einmal Banken einen Besuch abstattet. Einen Vertrag habe er noch nie gesehen, behauptet er.

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Es sind aber nicht nur Impressionen, die das Designerpaar wie eine Beute in sein Designstudio trägt, häufig sind es auch konkrete Dinge. Fundstücke, die sie für ihre Designs verwerten: rosa Plastikschläuche, interessant geformte Holzstückchen, Pappkartons. Oder, wie vor Jahren, dieses riesige Bündel Taue, gekauft in einem Straßenstall, das sie zu Hause auf den Tisch legten, um das Geflecht auseinander zu nehmen. Während sie sich anschickten, das Knäuel zu entwirren, trafen sich mit einem Mal die Augen von Fernando und Humbert, sie hielten inne und wussten: "So soll unser Stuhl aussehen! Er repräsentiert Brasilien in all seiner Schönheit und Dekonstruktion." Heute fehlt ihr Stuhl "Vermelha", der Metallstuhl mit dicken, roten Baumwollkordeln, in keiner Designausstellung.

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Um ihr Werk zu beginnen, mussten sie zuerst sorgfältig studieren, was genau die Konstruktion des Seilhaufens ausmachte. Denn so simpel, so roh, so lässig - manche nennen es despektierlich "naiv" - das Design der Brüder mitunter wirkt, dahinter steckt immer ein ausgeklügeltes, hochwertiges Objekt, das neue Technologien, einfache Materialien und Traditionen brasilianischen Handwerks miteinander verbindet. Es geht bei den Campanas nicht um Retro, es geht nicht um Recycling - nicht um Readymades.

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Den Lebenshunger ihrer pulsierenden Heimatstadt, in die täglich 1000 Menschen neu ziehen, bannen Humberto und Fernando Campana in expressiver Weise in ihren für Europäeraugen überwältigend lebhaften Objekten. Sie lieben gerade Sofas und glatte Plastikstühle. Aber sie entwerfen keine - das überlassen sie lieber dem europäischen Kontinent. "Mein Gehirn funktioniert einfach anders", brachte Humberto einmal die Differenz auf den Punkt. Den Brüdern geht es vielmehr darum, den brasilianischen "Kontrast zwischen Reichtum und Armut, Hochtechnologie und Ursprünglichkeit, Tradition und Moderne zu kommunizieren".

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Und natürlich wissen sie: Es ist ein schmaler Grat zwischen Kitsch, Folklore und Design, den sie mit ihrer Kombination aus Materialmix und Handarbeit beschreiten. Der "Alligator-Stuhl" oder auch der Stuhl "Banquete" illustrieren dies vielleicht am besten: Zahlreiche Stofftiere - Alligatoren, Wölfe, Hunde, Katzen, Affen - bevölkern die Sitzfläche und lassen das Möbel so durchdacht und vollkommen wirken, dass es nicht aussieht wie eine zurückgelassene Spielzeugsammlung eines Neunjährigen, sondern wie ein Kunstwerk. Angeregt wurden sie zu diesen Stühlen von den handgenähten Stoffpuppen, die die Menschen in den Armenvierteln verkaufen.

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Ihr berühmtester Stuhl nimmt nicht nur mit seinem Namen, "Favela", Bezug auf seine Herkunft: Wie die Hütten der Ärmsten ist der Designerstuhl aus Abfallholz zusammengezimmert, roh und unbehauen erscheint er, und doch erkennt man auf den zweiten Blick, wie ausbalanciert die Rauheit und die Schönheit, der Zufall und die Absicht sind. Was aussieht, als hätte man Mikado mit dicken Klötzchen gespielt, ist in Wahrheit höchste Kunsthandwerkskunst. Auch Campanas "Sushi-Stuhl" von 2002, der Assoziationen an eine übervolle Wäschetonne weckt, aus der bunte Stoffstreifen quellen, spielt mit diesem irritierenden Mix, Herkömmliches in eine andere Ebene zu transformieren und so Design zu erschaffen.

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Genau das fasziniert an den Entwürfen Campanas: Es liegt etwas Kraftstrotzend-Poetisches in den Objekten, die so gar nichts für das verkopfte Design Europas und seine Funktionalismustraditionen übrig zu haben scheinen. Die Campanas selbst würden es so umschreiben: "Bei uns steht das Material an erster Stelle. Dann kommt die Form. Und dann arbeiten wir daraus die Funktion heraus." Bis die brasilianischen Brüder auf dem Designmarkt der großen Industrienationen ankamen, war es allerdings ein langer Weg gewesen. Gab es 1988, fünf Jahre nach Eröffnung ihres Studios, in Brasilien immerhin schon die erste Campana-Ausstellung, dauerte es noch einmal sechs Jahre, bis die beiden international bekannt wurden: Auf der Mailänder Möbelmesse 1994 galten sie als die Entdeckung.

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Vier Jahre später, 1998, öffnete ihnen das New Yorker Museum of Modern Art die Türen, wo sie sich im "Projekt 66" gemeinsam mit dem deutschen Lichtdesigner Ingo Maurer präsentierten, im Jahr 2003 dann in Lissabon die erste Einzelausstellung auf europäischem Boden. Wiederum in Mailand hatte der italienische Hersteller Edra ein Jahr zuvor mit Campanas Sofa "Boa" einen Hit gelandet: Auf langen Samtwülsten, zu Zopfmustern zusammengefügt und größer als drei nebeneinander gestellte Doppelbetten, lümmelt man herum, kann Füße und Arme unter den Wülsten einhaken und sich wie gefangen in einem riesigen, skulpturalen Netz ineinander verschlungener Schlangen vorkommen.

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Die Campanas selbst verstehen sich als Zeitzeugen. "Wir nehmen auf, was wir sehen und übersetzen es in die Sprache des Designs", erzählten sie dem "design report" im vergangenen Jahr. Sie brauchen nicht viel für ein Objekt, aber es kommt ihnen darauf an, arme, einfache Dinge aufzuwerten und ihnen einen gewissen Kick zu verleihen. Sie bleiben damit, auch wenn sie längst im Luxussegment angekommen sind, gewissermaßen, wenn auch nicht unumstritten, ein Sprachrohr der Armen. Es entbehrt nicht des Zynismus, dass ein Möbel wie "Favela" von den Slums Sao Paulos inspiriert ist, zugleich aber für die Armen unerreichbar, weil unbezahlbar bleibt - erst recht, weil sich die Reichen dieser Welt mit dem "Favela"-Stuhl ein Stück Armut ins Wohnzimmer respektive Designerbüro holen, ohne sich mit dem impliziten sozialen Brennpunkt zu beschäftigen.

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Auf der Kölner Möbelmesse erfuhr ein größeres Publikum davon, was Brasiliens Straßen für Designer ausspucken. Das "Ideal House Cologne" entwarfen im vergangenen Jahr nicht nur das französische Brüderpaar Bouroullec, sondern auch die Brüder Campana. Und wieder entstand ein sehr konkreter Ausdruck ihres Lebensgefühls: ein chaotisch wirkender Bretterverschlag aus kreuz und quer übereinander genagelten Latten und einem fünf Meter hohen Strohzylinder. "Ein Haus, das jeder selbst bauen kann", meinte Fernando damals - Besucher der Möbelmesse durften denn auch weitere Wände aus Sperrholz zimmern - "mir ging es um Stroh als nachwachsenden Rohstoff, weil mir sehr an Nachhaltigkeit gelegen ist", merkte Bruder Humberto an. Auch hier der typische Campana-Kontrast, der ein Kontrast Brasiliens ist: Neben natürlichen Rohstoffen wie Stroh und Holz entwickelten sie gemeinsam mit dem Chemiekonzern Bayer einen Fußboden aus einem speziellen Kunstharz, das sich organisch anfühlte. Darin versenkten sie Holzlatten - und scherzten über den Look von "Kiefer in Aspik".

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Und: Auch beim "Favela"-Sessel setzten sie sich dafür ein, ihn billiger zu machen. Zuletzt probierte ihre Edelfirma Edra deshalb aus, den "Favela" in Brasilien zu produzieren. Zumindest sind dies Versuche, die zeigen, wie bewusst sich die Brüder noch mit der Quelle ihre kreativen Ideen beschäftigen.
Dass Humberto und Fernando überhaupt Designer geworden sind, ist schon fast eine eigene Geschichte. Eigentlich arbeitete Humberto als Rechtsanwalt und Fernando als Architekt. Doch irgendwann wussten sie, sie würden ihre Karrieren aufgeben. "Der Beruf suchte uns wohl", sagen sie heute. Erklären können sie es sich nicht. Und vielleicht wollen sie es auch nicht.
www.campanas.com.br; www.edra.com

(Mareike Müller/Der Standard/rondo/11/11/2005)

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