Wien - Die anhaltenden Unruhen in Frankreich haben nach Ansicht des Grünen Europaabgeordneten Johannes Voggenhuber eine grundsätzliche Dimension. "Wir erleben keine Krise, wir erleben den Beginn einer Krise", warnte er am Sonntag in einer Diskussion im Rahmen der ORF-Europa-Matinee. Seit zehn Tagen randalieren Nacht für Nacht Jugendliche in den Pariser Vorstädten und mittlerweile auch anderen Städten Frankreichs.

Die Krawalle in Frankreich zeigten sehr deutlich die "Bruchlinien innerhalb Europas", führte Voggenhuber aus. Ganze Teile der Bevölkerung etwa seien aus öffentlichen Wahrnehmung verdrängt worden, ohne angemessene Mitsprache und mit dem Gefühl, bei "massiven Verteilungskämpfen" ungerecht behandelt zu werden. "Europa ist nicht irreversibel." Es könne scheitern, wenn es mit der Demokratie oder der sozialen Frage in Konfrontation gerate - "mit beiden gerät es derzeit in Konfrontation". Das zeige sich auch in der Frage der EU-Verfassung.

Ferrero-Waldner: Gemeinsame Migrations- und Asylpolitik

EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner, die die Ausschreitungen in Frankreich als "eine Tragödie" bezeichnete, betonte, Europa müsse eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik finden. Schlepperbanden müssten stärker gemeinsam bekämpft werden. Eine "Hauptsache" bei der Lösung des Zuwanderungsproblems sei es, den Menschen in den Herkunftsländern "eine Lebensperspektive" zu geben. "Dann werden sie dort bleiben, wo sie zu Hause sind." Zustimmung erhielt sie in diesem Punkt auch vom SPÖ-Europaabgeordneten Hannes Swoboda.

Außenministerin Ursula Plassnik (V) nannte die Ereignisse in Frankreich "sehr beunruhigend". Es gehe darum, wieder Vertrauen zu schaffen. Die Jugendlichen bräuchten eine Perspektive. Sie warnte auch vor einem unbedachten Umgang mit Worten: In Frankreich sehe man, wie eine unbedachte Äußerung Öl ins Feuer gießen könne. Der französische Innenminister Nicolas Sarkozy hatte die randalierenden Jugendlichen als "Abschaum" bezeichnet und angekündigt, die Vorstädte "mit einem Hochdruckreiniger" säubern zu wollen.

Mölzer: "Chimäre der multikulturellen Gesellschaft"

Der FPÖ-Europaabgeordnete Andreas Mölzer deutete die Ereignisse in Frankreich auch Beweis für das Scheitern der Idee einer multikulturellen Gesellschaft. Es sei "unverantwortlich", die Probleme zu verschärfen, indem man an der "Chimäre der multikulturellen Gesellschaft" festhalte. "Es ist vielleicht einfach zu leicht", nach Europa einzuwandern, so Mölzer - ein Punkt, dem Außenministerin Plassnik und Swoboda heftig widersprachen. Letzterer bezeichnete die Äußerung als "zynisch" angesichts der dramatischen Lage in nordafrikanischen Flüchtlingslagern.

Schüssel: "Ärmel aufkrempeln" als Motto von Wiens EU-Vorsitz

In einer wirtschaftspolitischen Diskussionsrunde der Europa-Matinee verkündigte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel unterdessen das Motto der EU-Präsidentschaft: "Ärmel aufkrempeln." Das bedeute, "dass man den Hausverstand aktiviert und sich auf das konzentriert, was jeder auf seiner Ebene tun kann."

Im Bereich der Beschäftigung sei es wichtig, dass "man keine uneinlösbaren Versprechungen macht", sagte Schüssel. Europa könne beim Abbau der Arbeitslosigkeit "sehr viel" machen. Ein Problem in Österreich seien auch teilweise schlecht ausgebildete Menschen. "Da muss etwas geschehen", so der Bundeskanzler. "Da sind Lohnergänzungen - Kombilohn - ein möglicher Ansatz. Das sollten wir mal ausprobieren, meiner Meinung nach." Gleichzeitig sprach er sich für genaue Kontrollen zur Bekämpfung von Schwarzarbeit aus.

Gusenbauer: "Pragmatischer werden"

"Wir brauchen Maßnahmen, die das Vertrauen stärken", sagte Gusenbauer, der eine Krise der EU konstatierte, welche die Union derzeit nicht bewältigen könne. Die Menschen müssten "sichtbare Erfolge" sehen. Er plädierte außerdem dafür, Verträge gegebenenfalls zu revidieren, falls sie sich - Beispiels Textilstreit mit China - als negativ für Europa erwiesen. Man dürfe Verträge nicht immer zu "Götzen" erheben. "Da müssen wir pragmatischer werden."

Haider kritisierte, die Europäische Union habe die Wirtschafts- und Finanzpolitik in ihre Verantwortung genommen, die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sei aber bei den Mitgliedstaaten verblieben. Auch die Zuwanderungspolitik in Europa sei "nicht nachvollziehbar": "Wir lassen Menschen zuwandern, die die Arbeitslosen von morgen sind", sagte Haider, auch mit Verweis auf Frankreich. "Das heißt, wir verschärfen (durch die Zuwanderungspolitik) das Problem." (APA)