Der exzentrische dänische Philosoph Kierkegaard, den uns die Magie der runden Zahl als Thema aufzwingt, ist für aufgeklärte Philosophen kaum mehr von Interesse. Manch Philosophielehrer wird da energisch widersprechen wollen, allein, das Pathos von der Bedeutsamkeit großer Geister muss sich an der Wirklichkeit von Kultur messen lassen. Und die hatte gerade in jenen Jahren, als Kierkegaards Schriften erschienen sind, entscheidende Schritte gemacht - ganz ohne die Philosophie.

"Wenn das Philosophie ist, kann ich gern drauf verzichten" . . . so etwa lautete unsere Reaktion auf den Lehrer, der uns partout die Tiefen dieser "Existenzphilosophie" nahe zu bringen versuchte. "Einübung im Christentum" - und, hat der Mann denn sonst noch Probleme? Ja, aber klar doch, ein ganz zentrales, uns nämlich die richtige Aussprache des großen Namens beizubringen: Köhköhgoooooh. Wir fanden, dass es dem Lehrer ganz gut stand, dabei mit entsprechendem Gesichtsausdruck in ein schafsähnliches Blöken zu verfallen.

Dagegen sah Sartre noch ganz gut aus, die Assoziation mit diesem Pariser Intellektuellen war ja bekanntermaßen der Ekel, und gedeckt wurde sie durch seine gleichnamige Schrift wie durch sein Bild, das damals nicht selten in den Magazinen zu finden war. Die Assoziationen zu Kierkegaard waren ganz andere, nicht existenzieller Ekel, sondern die Umkehrung des Verdauungsprozesses sozusagen: Darf's ein Bröckchen Philosophie sein? Furcht, Zittern, Angst, Krankheit, Tod - über allem schwebt noch die Bibel, und jetzt einmal im Ernst: Damit sollen junge Menschen im Denken geübt werden?

Aus den jungen Menschen, die sich derweil gänzlich anderen existenziellen Interessen hingaben, wurden irgendwann Studierende. Beim Soziologieprofessor mit seiner von tiefer Sorge um das Soziale zerfurchten Stirn sollten sie wieder von Kierkegaard hören, und zwar, dass er mehr "Sozialkritiker" denn Philosoph gewesen sei. Es war ein "Aha" ohne Erlebnis. Vom Kommunikationsprofessor mit der eminent besorgten Aura des Kulturpessimisten war zu vernehmen, Kierkegaard wäre ein "Kommunikationsanalytiker" gewesen. Selbstverständlich tauchte dann, durch die Studienliteratur vermittelt, noch Adorno auf, und von diesem kritischen Idol, von dem intellektuellen Über-Ich einer der "Dialektik" verschriebenen Generation musste man erfahren, dass er sich ausgerechnet über Kierkegaard habilitiert habe.

Für sein philosophisches Erstlingswerk Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen schälte Theodor W. Adorno aus dem religiös-existenziellen Wust die Theorie der ästhetischen Innerlichkeit heraus. Diesem Lektüre-Erlebnis durfte nun ein künstliches "Aha!" unterstellt werden, wurde doch auf dem dialektischen Präsentierteller vorgelegt, was woraus "deduzibel" war und was nicht. Irgendwie. Hoffnung um der Hoffnungslosigkeit willen - derartig Bedeutungsgeschwängertes sollte noch lange durch die kritische Theorie wabern. Die Auslotung von Möglichkeiten war Thema, denn es sollte nicht die schlechteste Ästhetik sein, die das Versprechen barg, im "Trugbild des Verlorenen" ein "genaues Schema dessen was werden soll" zu dechiffrieren. Auf eine Präzisierung dessen, was werden soll, ließ sich in der studentischen Wohngemeinschaft gut und gern verzichten, denn es stand allen gut an, sich in Übergängen wohlig einzurichten. Irgendwann hing an der Küchentür, zwischen Abwaschplan und Einkaufsliste, ein Zitat aus Kierkegaards Entweder / Oder: "Mit steigender Angst starrt er in das Schriftstück hinein; je mehr er sein Auge anstrengt, desto weniger sieht er; hin und wieder füllen sich seine Augen mit Tränen; je öfter das geschieht, desto weniger sieht er; im Laufe der Zeit werden die Schriftzüge immer blasser und undeutlicher, zuletzt modert das Papier, und ihm bleibt nur sein tränenblindes Auge."

Glücklicherweise wurde philosophische Lektüre nicht notwendig mit tränenblinden Augen bestraft. Nicht abweisen jedoch ließ sich die Frage, wie viel am so genannten Denken eigentlich Dichtung ist, wie viel hehre Philosophie also der profanen Schriftstellerei verdankt.

Natürlich ist es ungerecht, einen Philosophen auf Schriftstellerei herabzustufen, und doch ist dies ein recht beliebtes Spiel innerhalb der akademischen Hackordnung. Einen Kierkegaard, der in philosophischen Lexika als religionsphilosphischer Schriftsteller geführt wird, möchte man fast schon wieder verteidigen. Wäre da nicht, nun ja, dieses philosophisch Bröckchenhafte, das einem dabei aufstößt.

Was nun hat es mit der Existenzphilosophie auf sich? Die Aufklärer beantworteten die Kardinalfrage der Philosophie - Was ist der Mensch? - mit möglichst allgemeinen und abstrakten Prinzipien. Als Paradebeispiel gilt Kant, der die Grundbefindlichkeit des menschlichen Daseins nach ästhetischen und logischen Kriterien definierte, die für alle gleichermaßen gültig sind. Das war eine Philosophie, die den hochwohlgeborenen Damen und Herren des Adels sozusagen den Stuhl unterm privilegierten Hintern weggezogen hat. Sie provozierte aber auch die Frage, ob diese Abstraktheit der Vernunftwahrheiten nicht doch von konkreten Verhältnissen wie Sprache, Kultur, Geschlecht beeinflusst wird.

Nicht erst Kierkegaard misstraute dem Allgemeinen dieser idealistischen Philosophie. Die philosophische Anthropologie Johann Gottfried Herders machte Sprache und konkrete Weltverhältnisse zum Thema. Und Ludwig Feuerbach, der die verkappte Theologie der idealistischen Philosophen aufs Korn genommen hat, konkretisierte die Kritik an der religiösen Anschauung. Kierkegaard konzentrierte sich gegen Kant, gegen Hegel auf das einzelne Erleben, die Erinnerung, den Augenblick. Existenzphilosophie heißt, bestimmte Situationen und die daraus folgenden Handlungen auf das Individuum fokussiert zu thematisieren. Eine gewisse Abscheu vor dem Sozialen deutet sich an.

Ungeachtet dessen, dass eine solche Philosophie sich gegenüber dem Leben systematisch verspätet, diente Kierkegaard damit im Grunde genommen einem bürgerlich reaktionären Denken, das ins Prinzip "Jedem das Seine" übersetzt und allgemein Verbindliches als Gleichmacherei ablehnt. Sein Grundsatz, dass der Mensch in all seiner Endlichkeit nichts und nichtig sei und seine Existenz als "Krankheit zum Tode" durchlebt, ist auch nicht gerade tröstlich.

Zugegeben, dies alles sind wichtige, ja geradezu schwergewichtige Fragen. Aber haben sie denn heute noch Bestand? Oder hat hier nicht doch eine historische Person ihre persönlichen zu philosophischen Problemen stilisiert? Kierkegaards Problem war der Gottesverrat seines Vaters, der als Kind in Nacht und Kälte Schafe hüten musste und dabei Gott verflucht hat. Danach fühlte er sich verdammt, eine Grundstimmung, die er in der Erziehung auf seine Kinder übertragen hat. Und es ist dieser Vater, der den 17-Jährigen (wie auch seinen Bruder, der Bischof wurde) in ein Theologiestudium zwingt.

Die Geschichte zeigt, was dabei herauskommt. Ja, es ließe sich mit einigem Grund vermuten, dass eine rechtzeitige Therapie und einige ausgesuchte Psychopharmaka uns die "Philosophie" Kierkegaards erspart hätten. Aber den Philosophielehrer, der auf die damit artikulierten Probleme pocht, den wird es wohl ewige geben. Stellen wir daher nochmals die Frage nach der "Existenz". So wie Kierkegaard sie sich vorstellt, ist sie das zum Allgemeinen aufgespreitzte Elend des Subjekts. Gemeinsamkeit und Kommunikation sind ihm fremd, der Mensch steht einzeln vor Gott, aus der Vielzahl von Entscheidungsmöglichkeiten geborene Angst ist Grundlage seines Daseins. Durch die Brille des Philosophen gesehen, wird dieser seltsame Substantiv "Existenz" zur alles entscheidenden Kategorie. Immerhin lehnte Kierkegaard geistliche Autoritäten ab und polemisierte gegen die trostsuchenden "schlappen Schwätzer".

Als reger Publizist polterte Kierkegaard in Büchern, Streitschriften, Predigten gegen fast alles und jeden. Daher eignen sich seine Texte so gut als Zitatensteinbruch für manche Gelegenheiten. Immer geht es, vor der Instanz des Einzelnen, gegen das Allgemeine, gegen Vermittlung, gegen die Perspektive dessen, was später "gesellschaftlich" heißen sollte. Das macht den "Victor Eremita", den in Einsamkeit Siegenden (eins der vielen Pseudonyme Kierkegaards), so unausstehlich: Sein Philosophieren hat nur mit ihm selbst zu tun, soll aber publiziert und allgemein maßgeblich sein. Ja, das ist doch Ironie!, schulmeistert unser alter Lehrer dazwischen. Mag sein, dass diese Ironie sich aber nur allzu gut hinter Arroganz versteckt hielt.

Das Pathos der Existenzphilosophie mit ihrer Überbetonung des Individuums ist längst hohl geworden. Hat die moderne Kultur nicht schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen faszinierenden Wandel erlebt, einen Strukturwandel der Medialität? Der mit Apparaten wie einer Kamera bewehrte Mensch ruft ein neues Credo aus, und es ist das unbedingte Credo der Natur als äußere Wirklichkeit, der sich der Fotograf auf ungeahnte Art und Weise bemächtigt. Über die einzelne Existenz, den Augenblick, wird souverän verfügt, eine neue, eine technische Synthesis drängt sich auf. Diese Zeit des Aufbruchs in die Moderne, es waren genau jene Jahre, in denen Kierkegaard gelebt hat. Seine Philosophie hat darauf nicht reagiert, anders als der auf seine Weise gescheiterte Ludwig Feuerbach (vgl. dazu die detaillierte Studie von Falko Schmieder Ludwig Feuerbach und der Eingang der klassischen Fotografie, Berlin 2004).

Nicht die thematische Verpflichtung auf die Gesellschaft und das Soziale ist es, sondern dieser kulturelle Wahrnehmungsumbruch, der uns ein existenzielles Denken wie das von Kierkegaard heute so fremd macht. Als er 1855 starb, wurde die Verlegung des ersten transatlantischen Telegrafenkabels vorbereitet. Die Zeit der Medienmoderne war angebrochen, die Fragen nach dem Sein und nach der Welt neue Grundlagen gab. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 5./6.11.2005)