Spuren der Melancholie in der Kunst des 20. Jahrhunderts: "A Woman in the Sun" (1961) von Edward Hopper.

Foto: Robert E. Mates
Paris - Mit der Großausstellung "Melancholie" präsentiert Kurator Jean Clair in Paris ein Projekt, das er vor zehn Jahren in Wien konzipierte. Die Ausstellung ist über drei Stockwerke des Grand Palais verteilt. Sie behandelt das Thema Melancholie vom fünften vorchristlichen Jahrhundert bis in die Neuzeit. Wobei das Phänomen Melancholie, das übrigens nur im Okzident vorkommt, für Jean Clair ein Seelenzustand von grundlegender, unbegründeter Traurigkeit ist.

Jean Clair heißt im zivilen Beamtenleben Gérard Régnier und ist - bis zum 20. Oktober, seinem 65. Geburtstag - Direktor des Pariser Picasso-Museums. Der Reiz der Schau im Grand Palais liegt in der Vielfalt der 284 Exponate. Kunst und Wissenschaft erklärten das Phänomen der Melancholie auf unterschiedliche, komplementäre Weise. Deshalb hat Jean Clair alle erdenklichen Themenaspekte mit einbezogen: Literatur, Philosophie, bildende Künste, Medizin, Psychologie, Religion und Theologie.

Die Exponate erstaunen und überraschen die Besucher, die Jean Clair für seine Assoziationen und Ideen bewundern, die er unter den Fittichen der Melancholie ausbreitet. Eigentlich folgt er einer chronologischen Ordnung, die er jedoch bereits im ersten, der Antike gewidmeten Saal provokant - aber optisch schlüssig - unterläuft: Stelen aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, eine griechische Vase mit der Darstellung der Penelope in der typischen melancholischen Haltung (die linke Hand hält den seitlich geneigten Kopf) vor ihrem Webstuhl sitzend. Ein halluziniertes Gemälde von Max Ernst, L'Ange du foyer (Le Triomphe du surréalisme) von 1937, dessen Zeitlosigkeit in diesem historischen Umfeld zur Evidenz wird.

Dunkle Gallensekrete

Französisch-englische Texte an den Museumswänden erläutern den historischen Hintergrund oder die wissenschaftlichen Errungenschaften der jeweiligen Zeit. Die Einschätzung der Melancholie veränderte sich je nach Epoche: Hippokrates brachte die melancholische Stimmungslage mit der dunklen Gallensekretion in Verbindung.

Im Mittelalter wurde die Zerschlagenheit, Verzweiflung, Einsamkeit - bzw. deren Bedrohtheit durch den Teufel oder Dämonen - als "Faulheit des Herzens" aufgefasst und bald zu einer der Todsünden erklärt. Die Verführung des Eremiten Antonius, des von fantasievollen Dämonen geplagten Heiligen, wird gezeigt in den Versionen des Hieronymus Bosch, Martin Schongauer, Lukas Cranach d. Ä. sowie Otto Dix. Mit dem Beginn der Renaissance stellt die Astrologie die Verbindung zwischen den Planeten und etwaigen Seelenzuständen her, insbesondere zwischen Saturn und der Melancholie. Albrecht Dürers Kupferstich Melencolia I (1514) ist das Herzstück der Schau: Jedes Element, seien es geometrische Geräte, ein überdimensionaler Polyeder oder die sitzende Frauengestalt, taucht in der Kunstgeschichte wieder auf. Formidentisch mit Dürer der Melancolia, 1514-2003 betitelte Polyeder aus schwarzem Marmor von Claude Parmiggiani (2003).

Totenkopf, Sanduhr In den Vanitas-Variationen des XVI. und XVII. Jahrhunderts werden Vergänglichkeit und Zeitbegriff durch Totenköpfe, Sanduhren und Früchtearrangements illustriert - Objekte, die Jean Clair in seine Schau aufnimmt.

Den Nacht-, Traum- und Einsamkeitsbegriff symbolisiert eine präparierte Fledermaus, ein nächtlich fliegendes Säugetier. Der nächste Schritt führt zu den Menschenfressern von Francisco de Goya y Lucientes, der auch die Allegorie der Zeit durch Die Alten (um 1808) darstellt. Der Inbegriff der romantischen, schwermütigen Malerei ist Caspar David Friedrichs Mönch am Meere (1808).

Vincent van Goghs Arzt Docteur Paul Gachet blickt seit 1890 depressiv auf den Betrachter, der rasch zu Giorgio de Chirico und dessen perspektivisch bestechender, von langen Schatten charakterisierter Melancolia (1912) flüchtet. Nach einer Kurzkonfrontation mit dem überdimensionalen lebensechten Dicken Mann von Ron Mueck (2000) überfliegt der Blick noch Anselm Kiefers Melan- cholie (1989), eine Art rudimentäres Bleiflugzeug. Der mit Großformaten bestückte Schluss-Saal entspricht dem generellen Mammutanspruch, dem die feinsinnige, intelligente, intellektuell anregende Realisierung mehr als gerecht wird. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.10.2005)