Ab 1850 entstand eine einzigartige Dokumentation der Stadt Wien im radikalen Wandel.

Foto: Albertina
Eine exakte Wiedergabe der Wirklichkeit, von Proportionen, Details, Perspektiven, das war es, was die Menschen an der Erfindung der Fotografie besonders glücklich machte.

Ein erstes Anwendungsgebiet des jungen Mediums in Wien: repräsentative Darstellungen der mittelalterlichen Residenzstadt, die sich 1850 auf Anordnung des Kaiser anschickte, den Weg zur modernen Metropole einzuschlagen. Ein Aufbruch, den die Albertina in Stadt.Leben.Wien nachzeichnet.

Wie Druckwerke mit Wien-Ansichten dieser Zeit aussahen, zeigt zum Beispiel eine 1850 im Artaria Verlag herausgegebene Mappe, die Lithografien nach Daguerreotypien, einer der ältesten Fototechniken versammelt.

Nachdem Daguerreotypien nicht zu vervielfältigen waren, mussten die Druckvorlagen haarfein abgezeichnet werden. Allerdings nicht ohne in alter Vedutentradition auch Flaneure in die Stadtszenerien einzufügen.

Weiteres interessantes Detail: Das Frontispiz-Bild ist eine Lithografie von Rudolf von Alt. Sie breitet die Stadt aus der Kahlenberg-Perspektive derart unter sich aus, wie es damals kein Foto vermochte und auch heute nur mit speziellen Hilfsmitteln gelingen könnte.

Das steigende Bedürfnis, die "ganze Welt in Bildern" zu Hause im Zimmer zu haben, erkannte der findige Alois Auer, von 1841-1866 Direktor der österreichischen Staatsdruckerei, und gründete 1850 eine eigene Fotoabteilung.

Er hatte dabei nicht nur einen ertragreichen neuen Zweig des Druckereiimperiums im Auge, sondern auch eine Art "Kulturmission": In diesem Sinne schickte er 27 Fotografien zur ersten Weltausstellung in London.

Erste große Aufgabe war die Dokumentation der zahlreichen neuen Bauprojekte in Wien: Die Vollendung der gotischen Giebel von St. Stephan etwa, oder die Votivkirche. Aber auch militärische Neubauten, wie die Franz-Joseph-Kaserne, an deren Stelle heute die Urania steht oder das Riesenprojekt Arsenal.

Als die mittelalterlichen Basteien auf Dekret des Kaisers geschliffen werden sollten, machte man sich offenbar sofort an deren lückenlose Dokumentation. Die Fotografie sollte hier leisten, was "Kunstverständige in so vielen Tagen nicht zu schildern im Stande wären":

Ob Kärntner-, Stuben-, oder Fischertor, die städtischen Verteidigungsanlagen wurden penibel von allen Seiten aufgenommen. Dem Gegenüber stehen Fotografien der Wiener Linienwälle an der Grenze zur Vorstadt, ungefähr dort, wo heute der Gürtel verläuft.

Diese Verteidigungsanlagen wurden fast 50 Jahre später geschleift. Auffällig nicht nur die architektonischen Unterschiede, sondern auch das lebendige und idyllisch inszenierte Treiben der Menschen, deren Dokumentation erst die mit den jüngsten fotografischen Innovationen einhergehenden kurzen Belichtungszeiten ermöglichte: die Momentfotografie. (Anne Katrin Feßler, SPEZIAL, DER STANDARD, Printausgabe, 21.10.2005)