Foto: Viennale

"Wie weit kannst du deine Zehen spreizen?" Aus dem Schwarzbild führt die erste Frage in Naomi Kawases Kurzfilm "Kage" ("Shadow") hinein in einen Raum der Intimität. Eine junge Frau wird in einer Wohnung gefilmt. Ein Mann befragt sie aus dem Off, er interessiert sich für familiäre Details, für sie selbst, ihre Mutter und ihre Geschwistern. Dann, völlig unvermittelt, eröffnet er ihr, dass er ihr Vater ist. Der Mann, den sie für Selbigen hielt, ist unlängst verstorben.

"Kage" ist eine Miniatur, von der die längste Zeit ungewiss bleibt, wie viel daran dokumentarisch, wie viel fiktional ist. Das Video kondensiert eine melodramatische Grundkonstellation auf die Konfrontation zweier Menschen. Der sanft zitternde Kamerablick bleibt auf die junge Frau gerichtet. Ihrer Reaktion auf die Offenbarung des Mannes, die sich von anfänglicher Verwunderung allmählich in Irritation und schließlich in Überwältigung wandelt, gilt Kawases Interesse.

Die japanische Filmemacherin hat sich in den letzten Jahren in mehreren kurzen Arbeiten mit dem Verhältnis zu ihrem Vater auseinander gesetzt. Die Auslotung der eigenen Familiengeschichte geriet dabei zur Überprüfung (und zum Spiel mit) der eigenen Identität. Mit "Kage" schließt sie daran an, indem sie ein ähnliches Szenario der Verunsicherung von Schauspielern ausagieren lässt.

Das Video will nicht absichtsvoll in die Irre führen, sondern ein psychologisches Schema verdeutlichen. Am Ende akzeptiert die junge Frau die Aussagen des alten Mannes, auch wenn sie seine Motive für diese späte Enthüllung noch nicht versteht. Es wird ausgewiesen, dass er die Kamera auf sie hielt, nun führt Kawase die beiden in einem Bild zusammen. Auf der Terrasse übergibt die Frau ihrem Vater ein Geschenk. Bei Schattenspielen und einem gesummten Kinderlied findet die Familienaufstellung einen versöhnlichen Abschluss. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22./23.10.2005)