derStandard.at: Wie kann es sein, dass wenige Tage vor der Wahl so unterschiedliche Umfragewerte für einzelne Parteien publiziert werden - beispielsweise 49 oder 54 Prozent für die SPÖ?

Erich Neuwirth: Das ist völlig im Rahmen dessen, was man als Statistiker erwarten muss. Prinzipiell kann die Statistik zu dem Thema Umfragen ein paar Grundwahrheiten beisteuern. Eine heißt: Die Präzision dessen was ich schätze verdoppelt sich, wenn ich viermal so viele Leute befrage. Das Ergebnis hängt also maßgeblich von zwei Faktoren ab: Wie viele Leute man überhaupt befragt, wie groß also die Stichprobe ist, und wie viele tatsächlich echte Antworten geben und nicht verweigern.

derStandard.at: Sind die Stichproben der Vorwahlumfragen sehr unterschiedlich? Kann man die Umfragen also überhaupt miteinander vergleichen?

Neuwirth: Die übliche politische Umfrage in Österreich hat etwa 1000 Befragte. Das ist sozusagen die Faustregel. Wenn man Umfragen miteinander vergleicht, muss man natürlich immer auch die Größe der Stichprobe in Betracht ziehen. Sie sind also schon vergleichbar, aber eben mit viel größeren Unsicherheiten behaftet.

derStandard.at: Wird hier Statistik dazu missbraucht, um Wähler zu beeinflussen? Manipulieren solche Umfragen die Wählerentscheidung?

Neuwirth: Darüber haben sich schon viele Leute intensiv den Kopf zerbrochen. Die kürzeste Zusammenfassung der daraus entstandenen Weisheiten heißt: Es kann beides passieren. Es gibt sowohl den Verstärkungseffekt als auch den gegenläufigen Trend, und niemand kann prognostizieren, was passieren wird. Daher ist die Publikation einer Umfrage sozusagen chancenneutral.

derStandard.at: Man kann also nicht sagen, dass es unbedingt eine Wählermobilisierung zur Folge hat, wenn eine Partei wenige Tage vor der Wahl mit einer für sie schlechten Umfrage "herausrückt"?

Neuwirth: Das muss nicht unbedingt so sein, nein. Es kann passieren, dass die Wähler sich sagen: Das ist sowieso chancenlos, warum soll ich mich noch anstrengen und wählen gehen. Aber es kann eben auch den Effekt haben, dass die Partei ihre Kernwählerschichten motivieren kann, verstärkt ihre Stimme abzugeben.

derStandard.at: Trifft in diesem Fall der Spruch zu: "Traue keiner Umfrage, die du nicht selbst gefälscht hast"?

Neuwirth: Man muss Eines sagen: Zu jeder Umfrage gehört ein gewisses Hintergrundwissen darüber, wie sie entstanden ist, wie groß die Stichprobe war und auch was der exakte Wortlaut der Frage ist. Wenn ich das einmal weiß, traue ich mir schon eine Interpretation zu. Falls aber publiziert wird, ohne den originalen Fragetext hinzuzufügen, kann dadurch schon Einiges verändert werden. Wenn ich mich als Profi ernsthaft damit auseinandersetzen will, sind das die ersten Fragen die ich stelle. Dann scheiden gewisse Verfälschungsmöglichkeiten von vornherein aus.

derStandard.at: Für den Profi ist das sicher nachvollziehbar, aber auch für den Wähler als "Laien"?

Neuwirth: Wenn der Laie sich mit diesen Fragen auseinandersetzt, und vor allem urgiert, den genauen Wortlaut der Fragestellung zu erfahren, könnte er dadurch auf Dauer einen sanften Druck erzeugen, damit eben dieser Wortlaut auch immer mitpubliziert wird.

derStandard.at: Gehen die einzelnen Meinungsforschungsinstitute nach den selben statistischen Methoden vor? Sind die Ergebnisse plausible Prognosen?

Neuwirth: Meinungsumfragen sind keine Wahlprognosen. Das sind Stimmungsbilder zu bestimmten Zeitpunkten. Und das unterscheidet ja auch die Wahlhochrechnungen vom Wahltag selbst von vorherigen Umfragen. Denn die Hochrechnung beruht auf tatsächlichen Zahlen, bereits ausgezählten Ergebnissen.

Alles was jetzt passiert sind Stimmungsbilder, was ja mittlerweile auch etliche der Meinungsforscher durchaus so formulieren. Sie sind sich sehr wohl dessen bewusst, dass ihre Umfragen eben keine Prognosen im statistischen Sinn sind. Eine Prognose wäre es nur, wenn ich behaupten kann: Ich bin tatsächlich in der Lage zu sagen, wie etwas sein wird.

derStandard.at: Wie sinnvoll ist das dann überhaupt, im Vorfeld Umfragen zu machen und zu publizieren?

Neuwirth: Es ist für die Parteien mit Sicherheit ein Instrument, um mit der öffentlichen Meinung zu kommunizieren. Als Prognoseinstrument halte ich es für eher ungeeignet. Das Problem liegt ja unter anderem darin, dass zum Beispiel Telefonumfragen immer mehr Schwierigkeiten mit der Repräsentativität haben. Festnetzanschlüsse werden immer weniger, und Handynutzer sind eine ausgewählte Gruppe der Bevölkerung. Da habe ich folglich eine Verzerrung. Natürlich versucht man die Verzerrung rückzurechnen, aber das ist etwas, was sich den Formeln, die wir Statistiker für Stichproben anwende, völlig entzieht. Damit wird die Angabe von Schwankungsbreiten immer mehr Erfahrungswert als theoretisch auf ein Fundament aufbauend.

derStandard.at: Das was jetzt im Vorfeld der Wahlen passiert, ist also hauptsächlich für die Parteien selbst interessant?

Neuwirth: Natürlich, vor allem wenn sich in einem sehr kurzen Zeitraum die Zustimmung extrem verändert, also um mehrere Prozentpunkte. Das sagt uns noch nichts über das Wahlergebnis, aber es ist natürlich eine ganz wesentliche strategische Information für die Parteien, die man unter Umständen auch geschickt platzieren kann. Ich würde diese Vorhersagen also eher unter dem Motto "Frühwarnsystem für Parteien" ablegen als unter einer Prognose auf das Wahlergebnis.