Bei der Pressekonferenz zum Thema "Ortstafelstreit": Prof. Hannes Tretter, Jurist; Matthaeus Grilc und Rudi Vouk, slowenische Volksgruppenvertretung (von links).

derStandard.at: Der Ortstafelstreit schwelt seit vielen Jahren. Was sind seine Ursachen?

Hannes Tretter: Der Ortstafelkonflikt hat seine Wurzeln vor allem im „Kärntner Abwehrkampf“ der Jahre 1918/19 gegen die Ansprüche, die Jugoslawien nach dem Waffenstillstand 1918 auf Gebiete Kärntens erhob. Seitdem erschweren deutschnationale Kreise und Traditionsverbände („Kärntner Abwehrkämpferbund“) die Umsetzung der auch für die slowenische Volksgruppe in Kärnten geltenden Minderheitenschutzbestimmungen im Staatsvertrag von St. Germain 1919 und im Staatsvertrag von Wien 1955.

Die andauernde, rechtswidrige Weigerung der Bundesregierung und des Kärntner Landeshauptmanns, ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes aus dem Jahr 2001 umzusetzen, mit dem die 25%-Klausel als verfassungswidrig aufgehoben und auf einen Prozentsatz von 10% als europäischer Standard hingewiesen wurde, hat die Diskussion neuerlich angeheizt und belastet.

derStandard.at Wie kann es sein, dass mehr als 50 Jahre nach dem Abschluss des Staatsvertragesm immer noch keine befriedigende Situation hergestellt ist?

Tretter: Die Gründe für diese lang andauernde Auseinandersetzung sind historischer, politischer und gesellschaftlich-psychologischer Natur, die dem Gestern näher stehen als der Zukunft. Solange Bundes- und Landespolitik in einer gemischtsprachigen und multikulturellen Gesellschaft nicht eine gewaltige Zukunftschance für einen einheitlichen wirtschaftlichen und kulturellen Raum innerhalb eines integrierten Europas erblicken, sich öffentlich eindeutig dazu bekennen sowie entsprechende Aufklärungsarbeit leisten und professionelle Mediation zwischen den Volksgruppen anbieten, wird es zu keiner Lösung dieses Konflikts kommen.

derStandard.at: Worin liegt die rechtliche Sonderstellung der slowenischen Minderheit begründet?

Tretter: Rechtliche Ausgangslage ist, dass Art. 7 Ziff. 3 zweiter Satz des Staatsvertrages von Wien 1955 (StV Wien) zwar vorsieht, dass in gemischtsprachigen Verwaltungs- und Gerichtsbezirken Kärntens, in denen die slowenische Sprache zusätzlich zum Deutschen als Amtssprache zugelassen ist, auch Bezeichnungen und Aufschriften topographischer Natur (zu denen Ortstafeln zählen) sowohl in slowenischer wie in deutscher Sprache anzubringen sind, nach der Rechtsprechung des VfGH diese Bestimmung aber kein individuelles Recht der Angehörigen der slowenischen Volksgruppe verbürgt. Es handelt sich um keine „Sonderstellung“, sondern um verfassungsrechtliche Garantien, die einen aktiven Minderheitenschutz im Sinne von Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung gewährleisten.

derStandard.at: Was besagt Artikel 8 EMRK, auf den sich die Beschwerde am Menschenrechtsgerichtshof stützt?

Tretter: Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) schützt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) unter anderem sowohl das Recht auf persönliche Identität als auch auf freie Gestaltung der Lebensführung. Es schafft als Kommunikationsgrundrecht einen Freiraum für die Entfaltung der Persönlichkeit auch und insbesondere im sozialen Kontext. Jede Kommunikation bedient sich nun als Medium vor allem der Sprache. Sprache, insbesondere die Muttersprache, ist wiederum ein wesentlicher Bestandteil persönlicher Identität. In jeder menschlichen Kommunikation kommt Symbolen als Träger standardisierter Bedeutung eine besondere Bedeutung zu. Topographische Aufschriften, insbesondere Ortstafeln, verfügen über einen hohen symbolisch-diskursiven Wert. Sie kennzeichnen optisch den Raum, in dem Angehörige ethnischer Minderheiten/Volksgruppen leben. Als symbolhafte Signale eines permanenten Kommunikationsprozesses tragen sie sowohl zur Konstitution einer multikulturellen und gemischtsprachigen Gesellschaft als auch zur Identitätsbildung der Volksgruppe bei.

Verweigert nun ein Staat die Aufstellung von zweisprachigen Ortstafeln in einem gemischtsprachigen Gebiet, so verweigert er die symbolische Kommunikation mit der ethnischen Minderheit und damit auch deren Anerkennung. Anstelle symbolischer Integration (Inklusion) erfolgt Exklusion. Verweigert der Staat den Prozess symbolischer Integration, indem er die Aufstellung zweisprachiger Ortstafeln unterbindet, so versagt er dem Individuum im Sinne der obigen Ausführungen die Anerkennung seiner ethnischen und sprachlichen Identität sowie die darauf Bezug nehmende Kommunikation. Dieser Eingriff ist auch nicht durch die Beschränkungsmöglichkeit des Art. 8 EMRK zu rechtfertigen. Es liegt kein in einer demokratischen Gesellschaft „zwingendes soziales Bedürfnis“ (nach dem EGMR notwendiges Kriterium für die Beschränkung eines Konventionsrechts) an der Nichtaufstellung zweisprachiger Ortstafeln vor. Diese Unterlassung stellt somit eine Nichterfüllung eines aus Art. 8 EMRK abgeleiteten Anspruchs dar.

derStandard.at: Auf welche Rechtsgrundlage stützen sich die Individualbeschwerden an den VfGH?

Tretter: Die Individualbeschwerde an den VfGH richtet sich auf die Aufhebung einer Verordnung, mit der einsprachige Ortstafeln in einer Gemeinde mit einem slowenischsprachigen Bevölkerungsanteil von über 10%, aber unter 25%, errichtet wurden. Zuerst muss der VfGH entscheiden, bevor eine Beschwerde beim EGMR eingebracht werden kann.

derStandard.at: Wie aussichtsreich ist ihrer Ansicht nach die Beschwerde?

Tretter: Die Beschwerde beschreitet juristisches Neuland und wird durch sozial- und sprachwissenschaftliche Überlegungen gestützt. Es ist vollkommen offen, ob VfGH/EGMR der Argumentation der Beschwerde folgen oder nicht. Das Recht auf Privatleben des Art. 8 EMRK ist aber schon oftmals vom EGMR auf Sachverhalte angewendet worden, die nicht auf den ersten Blick von dieser Bestimmung umfasst sind (z.B. gewisse umweltschutzrechtliche Ansprüche oder die traditionelle Lebensführung ethnischer Minderheiten).

Wird der Beschwerde durch den VfGH stattgegeben, so wird die Verordnung aufgehoben und muss auf der Grundlage des VfGH-Erkenntnisses von der Behörde neu erlassen werden und die Aufstellung zweisprachiger Ortstafeln verfügen.

derStandard.at: Ab 1.1.2006 übernimmt Ö die EU-Präsidentschaft. Ist bis dahin mit einem Urteil zu rechnen?

Tretter: Nein, es sei denn, der VfGH weist die Beschwerde kurzfristig ab oder lehnt ihre Behandlung ab.

derStandard.at: Welchen Einfluß könnte die „Internationalisierung“ des Ortstafelstreits auf die Präsidentschaft haben?

Tretter: Während der EU-Präsidentschaft Österreichs ist nicht mit einer „Internationalisierung“ der Frage zu rechnen, da zuerst der VfGH entscheiden muss, bevor eine Beschwerde beim EGMR eingebracht werden kann. Dieser benötigt derzeit aufgrund von Überlastung in der Regel mehrere Jahre, bis ein Urteil gefällt wird.

Während der EU-Präsidentschaft könnte Österreich zwar ein Signal setzen, um den Konflikt im Sinne des Minderheitenschutzes lösen. Es ist aber aus politischen Überlegungen zu bezweifeln, dass dies vor den Nationalratswahlen im Herbst 2006 erfolgen wird.

derStandard.at:  Welche Konsequenzen ergeben sich für Österreich, falls den Kärntner Slowenen Recht gegeben wird? Kann Österreich sich einem Urteil des EGMR einfach widersetzen? Was würde in so einem Fall passieren?

Tretter: Eine allfällige Verurteilung durch den EGMR verpflichtet Österreich gemäß Art. 46 EMRK zur Umsetzung des Urteils. Die Einhaltung des Urteils wird durch das Ministerkomitee des Europarates überprüft, weigert sich Österreich diesem nachzukommen, so wird der Fall so lange auf die Tagesordnung des Ministerkomitees gesetzt, bis das Urteil vollständig erfüllt ist. Bis dahin stünde Österreich unter politischem und medialem Druck. Mit dem Urteil des EGMR kann erreicht werden, dass Österreich seine Gesetzgebung im Sinne der Argumentation des EGMR ändert.