Präzise Beobachtungen aus dem Alltag französischer Kleinbauern - alteingesessene Familien und Neo-Landwirtinnen zwischen harter Arbeit, bürokratischen Zwängen, EU-Richtlinien und Landflucht: "Profils paysans: Le quotidien" von Raymond Depardon.

Foto: Viennale

Raymond Depardon, geb. 1942 in Villefranche-sur-Saône, einer der bedeutendsten Dokumentarfilmemacher der Gegenwart. Absolviert zunächst eine Fotografenlehre, parallel zu Fotoreportagen entstehen erste Filme ("Venezuela", 1963; u.a.). Wendet sich mit "San Clemente" (1982), "Urgences" (1987) oder zuletzt "10e chambre, instants d'audience" der Untersuchung von Institutionen und sozialen Zusammenhängen zu. Stellt 2000 mit "L'approche" den ersten Teil von "Profils paysans" vor, ca. 2008 soll der dritte, "La vie moderne", folgen.

Foto: Viennale
Raymond Depardon hat mit "Profils paysans: Le quotidien" seine Beobachtung des bäuerlichen Lebens im heutigen Frankreich fortgesetzt. Isabella Reicher hat ihn zum Gespräch über Entstehung und Umsetzung dieses Projekts getroffen und das Folgende aufgezeichnet.


Ich hatte das Glück, auf einem Bauernhof aufzuwachsen, auf einem mittelgroßen Betrieb im Saône-Tal. Später bin ich hinauf nach Paris gegangen, habe mich anderen Dingen zugewandt, bin durch die Welt gereist, habe die Agentur Gamma gegründet, fotografiert und Filme gedreht. Vor rund fünfzehn Jahren habe ich dann für eine Zeitung eine Reportage über die Bauern in jener Region gemacht, in der ich später auch gedreht habe.

Ich war sehr überrascht über das, was ich dort wieder fand. Ich hatte gedacht, diese Welt, die auch die Welt meiner Kindheit ist, würde nicht mehr existieren. Da hört es sich mit der Nostalgie allerdings auch schon wieder auf: Ich war überrascht und zugleich auch zornig festzustellen, dass es tatsächlich noch ein kleines, im Sterben begriffenes Stück französischer Landwirtschaft gab, über das keiner spricht. Also habe ich mir gesagt, darüber muss man einen Film machen. Oder vielmehr: Ich persönlich muss diesen Film machen.

Bald war mir klar, dass es ein Film über die mittleren Gebirgslagen werden müsste. In den Ebenen gibt es große landwirtschaftliche Betriebe. In den Bergen gab es auch Höfe, die konnten sich dank der Wintersportmöglichkeiten leichter auf neue touristische Aktivitäten umstellen. Aber in den Gebieten zwischen 600 und 1000 Metern fand ich diese verlorenen, vergessenen Zonen. Ich bin also ein bisschen wie ein Höhenmesser vorgegangen. Ich kannte viele Gegenden nicht, vor allem die protestantischen, die Cévennes, Gegenden, die sich etwas von der Region der Haute-Loire unterscheiden.

Ich habe sehr, sehr viel herum gesucht, und schließlich habe ich mir eine unerbittliche, persönliche Prüfung auferlegt: Habe ich wirklich Lust auf diesen Hof zurückzukehren oder nicht? Es gab Höfe, die erzeugten so eine vage Sehnsucht, ein bisschen so, als ob wir beide eine Verführungsprobe bestanden hätten. Das heißt, ich habe stundenlang gesprochen, die Leute dort wussten alles über mich. Sie waren ein bisschen misstrauisch, ich war ein-, zwei-, dreimal wieder gekommen, ohne Fotoapparat, ohne Kamera, und dann war etwas geschehen.

Ich komme auf einen Satz von Franco Basaglia, dem großen italienischen Psychiater aus Triest, zurück, der hat gesagt: "Wir müssen diese Fotos machen, sonst wird man uns nicht glauben." Natürlich hat er das auf die Psychiatrie bezogen, aber hier ist es ähnlich. Als ich den Film begann, hatte ich das Gefühl schnell handeln zu müssen, die ersten Schritte, die ersten Begegnungen filmen zu wollen. Oft lässt man das aus, weil es für uns nicht sehr schmeichelhaft ist. Die Leute fühlen sich nicht wohl mit der Kamera, und das will man nicht zeigen. Man zeigt die Leute immer nur, wenn sie gut vor der Kamera können, und mir schien es wichtig, gerade diese ersten Schritte auch zu zeigen.

Davon abgesehen wusste ich, dass es Höfe gibt, die zum Verkauf stehen, die zu Zweitwohnsitzen werden - richtige Spekulationsobjekte, die man auch nicht an interessierte Landwirte verkaufen will. Das ist ein wirkliches Problem. Dank meiner Erfahrung als Filmemacher und als Fotograf kann ich sehr, sehr schnell sein - mitunter brauche ich auch lang, ich bin eben ein richtiger Bauer, aber dann bin ich auch wieder sehr schnell. Hier war das Erfordernis, nicht viel zu drehen, sondern rasch. Trotzdem geht es ja ums private Leben, um etwas, das nicht in der Öffentlichkeit stattfindet, das macht es diffizil. Und man darf nicht zu viel wiederholen.

Gewisse Dinge habe ich in Afrika gelernt oder bei meiner journalistischen Arbeit, aber auch in meiner Eigenschaft als menschliches Wesen und vielleicht sogar als Kenner dieser Bauern. Man braucht nämlich viel Energie, das sind keine einfachen Gegenden. Manchmal ist es entmutigend. Es gibt Leute, die nicht mehr gefilmt werden wollen und so weiter. Meine ganze Vergangenheit zusammengenommen hat mir Energie für dieses Projekt gegeben. Ebenso wie der Umstand, einen zweiten Teil drehen zu müssen und einen dritten, das war sehr interessant für mich, weil es etwas ganz Neues war. Es war ein bisschen so, als würde ich an Tatorte zurückkehren. Ich hatte außerdem ein bisschen Panik, weil ich dachte, das wirst du nie schaffen, eineinhalb Stunden mit so wenigen Dingen zu füllen. Dabei hatte ich allerdings vergessen, wie großartig diese Menschen sind und dass die Kamera die Dinge trotz allem gut wiederherstellt.

Im Gegensatz zu amerikanischen Dokumentationen, wo die Leute offenbar mit Leichtigkeit ihr ganzes Leben erzählen, braucht man hier Zeit. Man muss beispielsweise eine Ausgewogenheit herstellen zwischen den Junggesellen und den Verheirateten oder jenen, die mit Geschwistern leben. Zwischen denen, die sprechen, und denen, die nichts sagen. Man muss aufpassen, dass die Kamera nicht nur denen folgt, die reden, und dass auch die Stille Teil des Films ist - nicht zuletzt deshalb, weil sie zu diesen gebirgigen Gegenden gehört, die ja quasi Inseln sind. Man muss eine Beziehung herstellen, und das geht ein wenig gegen meine Theorie. Tendenziell würde ich sagen, dass man nicht glauben soll, man würde Leute durchs Reden sofort besser kennen lernen.

Marcelle Bresse bringt die Situation im Film unglaublich gut auf den Punkt: Sie war schon sehr alt, ich hatte sie kennen gelernt, war immer wieder einmal vorbeigekommen und ich hatte ihr gesagt, dass ich am nächsten Tag um zwei Uhr wieder da sein würde. Sie ist also aus dem Haus gekommen und dann ist während der Aufnahme eine Frau vorbeigegangen. Und die hat gefragt: "Filmt er mich? Warum?" und Marcelle hat geantwortet: "Weil Sie gerade hier sind!" Und das ist wichtig: In zeitgenössischen Dokumentationen will man häufig alles unter Kontrolle haben. Aber eine Funktion des dokumentarischen Kinos ist auch, einfach das aufzuzeichnen, was gegenwärtig ist.

Kürzlich habe ich eine Formulierung gelesen, die mir sehr gefallen hat: "Erfahrungen prägen unseren Sinn für Wirklichkeit." Das hat mich beruhigt, ich bin jetzt über sechzig und ich habe mir gesagt, vielleicht ist meine Erfahrung auch dazu da, um mir zu sagen, "mach es einfach, und das reicht schon". Früher hatte ich immer den Hang, das, und dann das, und noch das zu machen, inzwischen treffe ich Entscheidungen - ich bin mehr wie die Bauern im Film geworden. Man merkt das auch im Film, dass ich Entscheidungen getroffen habe und dass ich sie akzeptiere und nichts bereue. Ich habe nach dem Motto agiert "dreh wenig und zeige (fast) alles".

Früher hat man mir immer gesagt, meine Vorliebe für Plansequenzen komme daher, dass ich Fotograf bin. Ich glaube einfach, dass ich ein sehr ausgeprägtes Gefühl für Zeit habe. Zeit vergeht ja sehr schnell, es ist schwierig, sie zu beherrschen. Und ja - es ist oft ganz einfach so, dass ich die Kamera nicht versetze, weil ich keine große Lust habe, zum Wetterhahn zu mutieren. Aber ich versuche auch, den Zuschauer nicht zu sehr zu langweilen, denn mir ist schon bewusst, dass die Zeit dort unten und bei uns nicht die gleiche ist.

Die Bauernhöfe - das sind vor allem die Frauen. Sie sind es, die sich wirklich dafür entschieden haben, dort zu leben. Frauen sind generell interessant für einen Dokumentaristen. Ich bin immer durch die Frauen in meinen Filmen gerettet worden, in allen Filmen - wenn man sie sich wieder ansieht, dann sind immer die Frauen stark, direkt, freimütig. Sie lassen nicht zu, dass sich Ungerechtigkeit etabliert. Sie protestieren, sie stellen Forderungen. Sie sagen wahrhaftige Dinge.

Vielleicht sind die Frauen auch der Schlüssel zu der Bebauung dieser Gegenden. Denn ohne Frauen ist das das Ende, so viel ist klar. Die Bauern haben versucht, sie zu holen, mit Kindergärten etc. Es funktionierte nicht. Wenn es aber so junge Frauen wie Amandine gibt, dann gibt es Hoffnung. Sie müssen Arbeit finden können, entweder sie heiraten einen Bauern und sie finden eine Arbeit in der Bank oder auf der Post ... Aber in diesen Gegenden sind es die Männer, die die Posten innehaben. Man sieht, alles hängt von den Frauen ab. Die Jungen, die auf Landwirtschaftschulen gehen, und die dort einen Partner finden, die sind gerettet. Das alles ist sehr komplex, es wurde auch, zwischen der Generation der Alten und den heute 20-Jährigen, eine ganze Generation geopfert. Das war zum Teil auch die Schuld der Bauern, sie haben ihren Kindern gesagt, das ist ein schlechter Beruf, geht lieber in die Stadt.

Ich selbst gehöre auch dieser "verschwundenen Generation" an. Es gibt aber viele Lösungen ... Man muss sich auf die gleiche Art um die kleinen Höfe kümmern wie um die großen. Wie es einmal ganz richtig heißt: Das hier ist ein kleines Land, und es braucht kleine Höfe. Aber man darf es auch nicht musealisieren. Man redet immer vom österreichischen Beispiel der "gardiens du paysage", der Bauern als Landschaftspfleger - das ist ein bisschen zweischneidig, weil es nicht nur um die Bewahrung der Landschaft geht. Die Bauern brauchen Einkünfte, sie wollen nicht der Allgemeinheit zur Last fallen, sie wollen es alleine schaffen. Ich glaube, dass es da in den nächsten Jahren Veränderungen geben wird, man wird sich des Reichtums und der Fruchtbarkeit dieser Gegenden wieder bewusst werden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.10.2005)