Helga Nowotny ist Professorin für Wissenschafts-Forschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich.

Foto: DER STANDARD/www.ethlife.ch/
Unschöne Debatten über Religion und Naturwissenschaft scheinen normalerweise auf die USA beschränkt zu sein. In den letzten Monaten allerdings haben sich derartige Diskussionen nach Europa und später über die ganze Welt ausgebreitet. Die Naturwissenschaften, so scheint es, sind dabei, in politische Gefahren abzugleiten, mit denen sie seit der Zeit vor der Aufklärung nicht mehr konfrontiert waren. In Europa nahm die amerikanisch geprägte Debatte über die Entstehung des Lebens ihren Ausgang, als der Wiener Kardinal Christoph Schönborn Zweifel äußerte, ob Darwinismus und Evolutionstheorie für Menschen, die sich als gläubige Katholiken sehen, akzeptabel seien.

Der Kardinal argumentierte, dass die Evolution das Werk Gottes ist und die Evolutionstheorie in diesem und keinem anderen Licht zu interpretieren sei. Nach dieser Intervention Kardinal Schönborns schien es mit dem Frieden zwischen Naturwissenschaften und Religion plötzlich wieder vorbei zu sein. Die göttlich offenbarte Wahrheit müsse Vorrang vor jenen Wahrheiten haben, welche die Wissenschaft auf Grundlage der Ratio zutage fördert.

Das heißt nicht, dass religiöse Gefühle oder, wie im Falle Deutschlands, bittere historische Erfahrungen aus der Nazizeit keinen Einfluss auf andere europäische Debatten wie etwa jene über die Ethik in der Stammzellenforschung ausübten. Tatsächlich manifestierte sich der religiöse Hintergrund der europäischen Nationen sehr deutlich in verschiedenen europäischen Forschungsgesetzen, wobei die liberalsten in Großbritannien und Schweden zu finden sind und die restriktivsten in Italien, Österreich und Polen.

Inkompatibel

Aber in keiner dieser Diskussionen wurde die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft direkt infrage gestellt oder, wie Kardinal Schönborn es tat, die Vorstellung ventiliert, wonach Religion und Naturwissenschaften potenziell inkompatibel seien. Nach der Wortmeldung des Kardinals präsentierte man die Entwicklung in den USA als Warnsignal für jene Gefahren, die in der Politisierung der Wissenschaft durch die Religion lauern. Man verwies darauf, dass sich Präsident Bush offen auf die Seite derjenigen geschlagen hatte, die nicht mehr nur die Evolutionstheorie in den Schulen gelehrt sehen wollen.

Der Grund, warum sich eine derartige Pseudowissenschaft in so vielen amerikanischen Schulen durchsetzen konnte, steht in Zusammenhang mit der enorm dezentralisierten Struktur des US-Schulsystems, wo engagierte und religiös motivierte Gruppen Einfluss auf den Lehrplan nehmen können. Da europäische Schulen strukturell anders organisiert sind, ist es unwahrscheinlich, dass der "Kreationismus" hier Fuß fasst.

Allerdings sollte man in Europa nicht glauben, immun gegen dieses Problem zu sein. Wenn dogmatischer Glaube in die Politik eindringt, wird es schwieriger, in strittigen Fragen die in einer Demokratie unerlässlichen Kompromisse zu erreichen. Dies deshalb, weil grundlegende Werte - im Gegensatz zur Verteilung materieller Ressourcen - als nicht verhandelbar gelten.

Es besteht die Gefahr, dass wissenschaftliche Entscheidungen mit wissenschaftlich-technischer Komponente nicht mehr auf Grundlage der Forschung oder rationaler Argumente getroffen werden, sondern zum Spielball verschiedener Interessengruppen werden, von denen manche unverrückbar fordern, dass ihre Steuern nur noch für die Finanzierung jener Forschungsvorhaben herangezogen werden, die mit ihren Werten im Einklang stehen.

Motor und Bedrohung

Wissenschaft ist Bestandteil einer sich globalisierenden Welt, ist Motor des Wirtschaftswachstums, wird aber auch als Bedrohung unserer Sicherheit und Überzeugungen gesehen. Natürlich werden kulturelle Weltanschauung und Religion weiterhin den kulturellen und wertmäßigen Kontext definieren, innerhalb dessen Wissenschaft interagiert. Werte unterliegen allerdings einem Wandel, der oft als Reaktion auf frühere Erfahrungen und aufgrund von Zukunftsängsten passiert.

Es dauerte Jahrhunderte, bis die Wissenschaft ihren in Bezug auf Politik und Religion immer relativen, autonomen Bereich abgesteckt hatte. Diese Autonomie hat der Wissenschaft gut getan, die ihrerseits der Gesellschaft und der Wirtschaft gute Dienste geleistet hat. Wenn diese gedeihliche Beziehung aufrechterhalten werden soll, muss die Unabhängigkeit der Wissenschaft - vor religiösem Dogmatismus und staatlicher Intervention - geschützt werden. Wer hätte sich gedacht, dass die alten Aufklärungsdebatten am Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer so brisant sind? (DER STANDARD Printausgabe 13.10.2005)