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STANDARD: Sie sind prononcierter Befürworter des EU-Beitritts der Türkei. Gegen den Mainstream glauben Sie, dass der Beitritt noch vor 2015 stattfinden könnte. Warum?

Hemetsberger: Unterschiedliche Meinungen machen einen Markt. Die Türkei entwickelt sich makroökonomisch rapide, und ich gehe davon aus, dass das Land schon 2008 unter eine Nettoverschuldensquote von drei Prozent kommt, die Inflation unter fünf Prozent sinken wird und die Staatsverschuldung unter 60 Prozent.

STANDARD: Die Staatsverschuldung liegt derzeit bei 74 Prozent . . .

Hemetsberger: . . . aber es geht in die richtige Richtung. Bei dieser Dynamik ist ein Beitritt wirtschaftlich betrachtet vertretbar, die Türkei wäre wirklich ein Gewinn für die EU.

STANDARD: Die meisten Österreicher sehen das anders.

Hemetsberger: Es werden viele Ressentiments geschürt, so als würde die EU von Masseneinwanderung überflutet werden. Dabei wird Westeuropa ab 2015 unter Arbeitskräftemangel leiden, spätestens dann wird sich die ideologische Diskussion umdrehen. Das war in den Siebzigerjahren auch so.

STANDARD: Was wäre der größte Vorteil für die EU?

Hemetsberger: Die demografische Komponente spielt eine Rolle, und das dynamische Wirtschaftswachstum macht die Türkei für jedes Unternehmen interessant. In der Marmara-Region etwa leben 40 Millionen Leute, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beträgt 4000 Dollar; in der Gegend von Istanbul sind es 7000 bis 8000 Dollar.

STANDARD: Kann man Ostanatolien, wo das ganz anders ist, einfach wegdiskutieren?

Hemetsberger: Nein, aber es gibt auch jetzt schon wirtschaftlich schlecht entwickelte Landstriche in der EU, etwa den Mezzogiorno. Außerdem verfügt Ostanatolien über enorm viel Wasser und Energie, und in zehn, zwanzig Jahren wird Wasser wichtiger sein als Öl. Schon jetzt verkauft Anatolien Wasser nach Israel. Und bis zum Ende der Verhandlungen können beide Seiten zulegen und lernen.

STANDARD: Wer wird was lernen?

Hemetsberger: Für die Türkei werden die Verhandlungen ein Stabilitätsanker für die Reformen sein, die Ausländer werden Sicherheit für ihre Investitionen bekommen, ihre derzeit niedrigen Investitionen werden wachsen. Schon im Vorjahr sind sie von 1,5 auf 2,7 Milliarden Dollar gestiegen. Allein die letzten zwei Privatisierungen haben fünf Milliarden Dollar eingespielt.

STANDARD: Ausländer sind aber nicht zum Zug gekommen. Wird sich das ändern?

Hemetsberger: Sicher, es gewinnt der, der am meisten zahlt. Die Privatisierungen laufen übrigens äußerst transparent ab, werden sogar im Fernsehen übertragen, mit Show: Wer die Hand hebt, legt 20 Millionen drauf, nach jeder Runde muss einer gehen.

STANDARD: Die österreichische Wirtschaft ist pragmatischer als die Bevölkerung: Viele Unternehmen sind in der Türkei jedenfalls längst aktiv. Könnte das Land so wichtig werden wie der Boom-Markt Osteuropa, in dem die Österreicher besonders engagiert und erfolgreich sind?

Hemetsberger: Definitiv. Die BA-CA ist schon längst in der Türkei, unser Investmenthaus CA-IB ist der größte ausländische Broker dort. Viele andere wie VA Tech oder RHI sind auch da. Nur bei den kleinen Unternehmen wird es länger dauern, weil bei ihnen die geografische Entfernung eine Rolle spielt. Ganz nebenbei: Ich selbst habe die Türkei schon 1995 entdeckt und den ersten Optionsschein auf türkische Aktien begeben, den Bosporus Basket.

STANDARD: Gratuliere. Sie sind ja ein politisch interessierter Mensch, waren in Ihrer Studentenzeit im "Roten Börsenkrach" auch politisch aktiv. Kann man über den türkischen Umgang mit Kurden, Frauen, den Armenier-Genozid, die Zypern-Frage und Menschenrechtsverletzungen so einfach hinwegsehen?

Hemetsberger: Natürlich nicht. Aber die Türkei hat in den vergangenen Jahren unglaubliche Fortschritte gemacht, und durch Reformen kann man das vertiefen und beschleunigen.

STANDARD: Wie würde sich die EU nach einem Türkei-Beitritt weiterentwickeln?

Hemetsberger: Die Türkei wird eine Brückenbildungsfunktion haben. Mit ihrem Beitritt wird der Dialog der EU mit dem Mittleren Osten und vielleicht Nordafrika beginnen.

STANDARD: Derzeit lassen die Europäer Afrikaner vor Lampedusa ertrinken und in Melilla ihr Leben riskieren. Sie meinen im Ernst, die EU könnte dereinst in Afrika weitergehen?

Hemetsberger: Ich will ja nicht utopistisch sein, aber die EU wird ihren Approach überdenken müssen. Was spricht dagegen, deutsche Unis in Nordafrika zu errichten, so wie das Migrationsexperte Rainer Münz vorschlägt? Wir haben bald zu wenig Ärzte, warum lassen wir nicht welche im bevölkerungsreichen Afrika ausbilden?

STANDARD: Hätten Sie das früher nicht Kolonialismus und Imperialismus genannt - oder sind Sie jetzt zynisch?

Hemetsberger: Überhaupt nicht. Das wäre billiger für Europa und würde auch den Ländern dort in ihrer Entwicklung helfen, weil viele Ausgebildete blieben ja auch in ihren Heimatländern.

STANDARD: Wo sehen Sie als Banker Reformbedarf für die Türkei?

Hemetsberger: Bleibt die Türkei auf ihrem eingeschlagenen Reformkurs, so wird sie in drei Jahren die Maastricht-Kriterien erfüllen. Und das schaffen nicht einmal alle Euroländer.

STANDARD: Die Türkei, das bessere Deutschland?

Hemetsberger: Jedenfalls das dynamischere.

STANDARD: Eine ganz andere Frage, zum UniCredit-Deal: Lernen Sie schon Italienisch?

Hemetsberger: Ich habe in Bologna studiert.