Von Montag bis Freitag täglich eine Stadtgeschichte von Thomas Rottenberg

Auch als Buch: Die besten Stadtgeschichten aus dem Stadtgeschichten - Archiv - zum Wiederlesen & Weiterschenken. "Wiener Stadtgeschichten" mit Illustrationen von Andrea Satrapa-Binder, Echomedia Verlag Ges.m.b.H., ISBN 3-901761-29-2, 14,90 Euro.

Es war im Regen. Und während die Gischt der vorbeifahrenden Autos uns an der Bushaltestelle am Keplerplatz durchfeuchtete, begannen die drei Mädchen neben dem Wartehäuschen eine kurze aber umso intensivere Diskussion, die nur durch permanentes Münzeneinwerfen und Wiederwägen unterbrochen wurde. So, als würde sich das Gewicht eines Objektes beim vierten Mal abwiegen innerhalb einer Viertelstunde dann doch so verändern, wie man es gerne hätte.

Aber natürlich war da nichts zu machen: Auch als die drei ihre Hartschalenkoffer zum fünften Mal auf die Waage neben der Bushaltestelle stellten, schnalzten die Zeiger bei jedem Koffer mit geradezu schwerelos anmutender Eleganz weit über die 30-Kilo-Marke. Und abgesehen davon, dass ich mich fragte, wie die drei nicht unbedingt massig gebauten 1,60er-Frauen diese Ungetüme hierher gebracht hatten (zumindest zwei der Koffer hatten keine Rollen), kam mir eine Erkenntnis. Mein jahrelanges Nachdenken darüber, wer jene Leute sind, die das Geschäftmodell „öffentliche Personenwaage“ rentabel halten, hatte ein Ende.

Zero T-Shirt-Toleranz

Schließlich hatte uns doch schon der Schularzt beim alljährlichen Wiegen und Messen mit dem Hinweis, dass es doch um exakte Ergebnisse gehe, gedrängt, in Unterwäsche anzutreten. Und auch wenn der gute Mann bei uns Knaben da nicht so pingelig gewesen ist, wie er es bei den Mädchen angeblich war (und da so ab der fünften, sechsten Klasse bei den Mädchen – überliefertermaßen – nicht einmal mehr T-Shirt-Toleranz walten lassen wollte), war mir trotzdem immer klar, dass eine Wiegerei in vollem Straßenoutfit (inklusive Taschen, Schuhen und Handy) wohl wenig Aussagekraft hat.

Außerdem bin ich in einer durchaus nicht waagenlosen Gesellschaft groß geworden: Sogar in Haushalten, deren Bewohner sich – noch – nicht in die hysterische Angst vor dem Dämon Übergewicht jagen lassen haben, standen immer Waagen. Meist im Badezimmer. Meist unheimlich unattraktiv. Oft mit ebenjenen Plüschbezügen versehen, die in den Favoritner Gemeindebauten der späten 70er Jahre auch auf Klobrillen und vor Toilettesitzen lagen. Und die als Belege für Behaglichkeit und wohlständige Bequemlichkeit herhalten mussten. Aber im Gegensatz zu den Klobrillenpölstern war der Waagenplüsch meist mehr staubig denn feucht.

Waagenbesitz

Aber am Kern des Problems änderte das wenig. Und zwar bis heute: Menschen, die ihre Waage nicht verwenden, würden wohl auch kein Geld in öffentliche Gewichtsmessanlagen werfen. Und Menschen ohne eigene Waage daheim, hätten wohl – abgesehen von denen, die tatsächlich durch Armut am Waagenbesitz gehindert werden (wobei ich auch hier immer davon ausging, dass das soziale Netz so dicht geknüpft ist, dass jene, denen das Wiegen und Wägen ein echtes Anliegen ist, auch hier Mittel und Wege finden würden) – auch keinen Bedarf an Münzwaagen.

Dennoch: Würde sich das Wägen im öffentlichen Raum nicht relevanter Nachfrage erfreuen, gäbe es die doch eher wartungsintensiven Präzisionsgeräte schon lange nicht mehr in Parks, in Bahnhöfen und an Bushaltestellen. Oder sie wären spätestens im Zuge der Währungs- und Münzumstellung aus dem Straßenbild verschwunden. Aber es gibt sie eben immer noch.

Übergepäck

Neulich, im Regen, standen dann die drei Mädchen mit ihren Koffern vor der Waage. Und schauten – nach jedem Wiegedurchgang – zuerst auf die Anzeige und dann auf ihre Flugtickets. So, als könnten sie das Gewicht des Übergepäcks wegwiegen. Ich verstand.

Ich verstand zwar kein Wort, ließ den Bus aber trotzdem fahren. Die jungen Frauen übersiedelten unter das Vordach des Wartehäuschens und öffneten ihre Koffer. Dann begannen sie, sich anzuziehen. Schicht um Schicht. Zuletzt kam dann bei jeder etwas burka-artiges zum Vorschein und wurde unter lautem „Bäh“-Gealbere übergeworfen. Ich warf einen Blick auf ein Gepäcketikett: „Teheran“

Als der nächste Bus kam, war von den vorher jungen, modisch gekleideten Frauen nichts mehr übrig. Als ich einstieg, schleppten drei runde, schwarze Barbapapas Koffer zur Waage. Die Mienen der Umstehenden waren skeptisch. Aber ob sich die in den Gesichtern der drei Frauen widerspiegelte, war nicht mehr zu erkennen.