Das Grand Hotel Cabourg

CRT Normandie/E. Bénard
Die Eisenbahn machte es nach 1850 möglich: Der Ärmelkanal war plötzlich nur mehr drei Stunden von Paris entfernt. So konnte der Architekt und Stadtplaner Paul Leroux in Cabourg einen Grundriss nach dem Geschmack seiner Zeit entwerfen: einen sternförmigen Plan wie die Place de l'Etoile in Paris. Im Zentrum allerdings kein Triumphbogen, sondern ein Kasino und das Grand Hôtel. In den strahlenförmig von diesem Zentrum ausgehenden Straßen ließ sich die Pariser Bourgeoisie prachtvolle Villen errichten, für die sie sich die Ideen munter aus der französischen Architekturgeschichte pickte: mittelalterliche Türmchen, Renaissancebögen und selbstverständlich auch normannisches Fachwerk.

Stadtplan und Bevölkerung kamen wie gesagt aus Paris und die Stadtpolitiker auch, übrigens häufig Theaterleute. In jüngerer Vergangenheit beispielsweise Bruno Coquatrix, der Direktor der legendären Pariser Music-Hall Olympia. 1956 wurde er Leiter des Kasinos von Cabourg und 1971 schließlich Bürgermeister. Für die Künstlerinnen und Künstler, die im Olympia auftraten, gehörte es zum guten Ton, auch eine Vorstellung in Cabourg zu geben. Edith Piaf, Gilbert Bécaud und viele andere waren regelmäßige Gäste und wertvolle Verbündete im Kampf ums Prestige, denn die Konkurrenz schläft nie!

Das Seebäderduell

Die Konkurrenz, das war und ist das 30 km entfernte Deauville. Ebenso schick, ebenso aus dem Ei gepellt, aber auch ebenso aufregend zu bleiben wie Deauville, das ist die ständige Herausforderung von Cabourg. Deauville hat eine Pferderennbahn, selbstverständlich hat Cabourg auch eine. Deauville veranstaltet ein Festival des amerikanischen Films, Cabourg kontert mit dem Festival des romantischen Films. In Deauville sind im Oktober die equi'days: Pferderennen und Ausstellungen. Cabourg bietet dafür "Epona", die Tage des Dokumentarfilms zum Thema Pferd (7.-9. 10.). Dennoch, was Eleganz und Jetset angeht, hat Deauville die Nase vorn.

Marcel Proust allerdings wird von Cabourg ganz allein beansprucht. Der Autor von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit verbrachte hier schon als Kind in den 1880ern die Ferien mit seiner Mutter. Als Erwachsener kam er regelmäßig wieder, weil das Klima seiner angegriffenen Gesundheit zuträglich war. Der siebenteilige Roman spielt zum Teil in Cabourg, das er im Buch Balbec nennt. Den zweiten Band Im Schatten junger Mädchenblüte schrieb er als Stammgast in der Suite im vierten Stock des Grand Hôtel.

Proust ohne Promille

Marcel Proust hat heute in Cabourg eine ähnliche Rolle wie Mozart in Salzburg. Die Mozartkugeln haben hier eine Schwester, aber das ist nicht etwa die Proustkugel, sondern ein Teegebäck namens Madeleine: eine kaum handtellergroße Mehlspeise mit kleinem Höcker und ohne Likör. Nur: Mozart hat keine Mozartkugelsonate komponiert. Proust jedoch hat dem Duft einer Madeleine die vielleicht bekannteste Passage seines 3000-Seiten-Romans gewidmet. Madeleines werden in Cabourg in jedem Café serviert, in den Konditoreien sind sie hübsch verpackt, natürlich mit dem Porträt von Marcel Proust.

Auch die Strandpromenade trägt seinen Namen, sie ist vielleicht eine der beeindruckendsten Frankreichs überhaupt. Hier stehen zwar keine Palmen in Reih und Glied wie in Nizza oder Cannes, dafür aber auch keine Autos Stoßstange an Stoßstange. Auf der einen Seite die Villen, auf der anderen Meer und Strand. Freilich, das ist im Herbst kein Badestrand, am aufregendsten gibt er sich aber ohnehin, wenn man ihn überhaupt nicht sieht: Zur Zeit der großen Flut, der Grandes marées, Mitte November, ist in dem ganzen Küstenabschnitt noch einmal eine kleine Hochsaison, da kommen Tausende, um das wild gewordene Meer zu sehen.

Regen ist Käse

Sonst aber, die Morgensonne, die durch den vom Meer aufsteigenden Dunst dringt, aus dem die verschnörkelten, mit Türmchen gekrönten Backstein- oder Fachwerkhäuser hervorragen, das sind Bilder, die für sich allein schon die Reise wert sind.

Von wegen Sonne: Die grünen Wiesen der Normandie, auf denen den ganzen Sommer über jene Kühe grasten, denen wir den Camembert, aber auch den Pont-l'Êvèque und den Livarot verdanken, die jetzt reifen Äpfel für den Cidre oder den Calvados, das hat natürlich einen Preis, und zwar nicht nur den, den man auf dem Erzeugermarkt mittwochs und sonntags in Cabourg dafür bezahlt, sondern: Es regnet hin und wieder.

Am besten zieht man sich dann in den Salon de thé des Grand Hôtel zurück, genießt eine Madeleine zum Tee, betrachtet die Regentropfen, die die Scheiben hinunterrinnen und das vom Wind aufgepeitschte Meer oder, ja oder man nimmt Im Schatten junger Mädchenblüte zur Hand. Zwar dauert der Regen sicher nicht lang genug für die 500 Seiten, aber in allen Buchhandlungen von Cabourg liegt die Comic-Ausgabe des Romans auf - in zwei Bänden, immerhin. (Der Standard, Printausgabe 1./2.10.2005)