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Woody Allen in Cannes kurz vor der Pressekonferenz zu 'Match Point'

Foto: REUTERS/Pascal Deschamps

Schuld - und Sühne? Jonathan Rhys Meyers als höchst ambivalenter "Held" von Woody Allens "Match Point" - hier mit Scarlett Johansen

Foto: Polyfilm
Bei den Filmfestspielen in Cannes lief Woody Allens vielschichtigster und überraschendster Film seit Jahren, "Match Point", außer Konkurrenz. Er hätte die Goldene Palme verdient. Am Freitag, 14.10., eröffnet er die Viennale.


Über einen seiner besten Filme, "Verbrechen und andere Kleinigkeiten" (1990), sagte Woody Allen einmal in einem Gespräch mit dem schwedischen Filmkritiker Stig Björkman: "Manche meiner Filme nenne ich 'Romane auf Film', und der fällt in dieses Genre . Eine Reihe Figuren werden seziert, und eine Reihe von Geschichten laufen parallel ab. Manche sind humoriger, andere philosophischer. Der Trick besteht darin, alle Geschichten gleichzeitig in der Schwebe zu halten, so dass man jeder folgen kann, sich auf alle einlassen kann, ohne sich zu langweilen."

"Verbrechen und andere Kleinigkeiten", wo unter anderem die Geschichte eines unbestraften Mörders (Martin Landau) erzählt wurde, eine gewaltige, gleichzeitig mit fast dokumentarischer Leichtigkeit komponierte Abhandlung über die "Banalität des Bösen" - dieses Meisterwerk schien lange Zeit ein Gipfelpunkt, den Allen in Folge bestenfalls in kleinen Etüden variierte. Sicher, da war noch "Ehemänner und Ehefrauen", eher eine Filmnovelle als ein Roman; und es gab ein paar heitere Selbstzitate wie "Manhattan Murder Mystery" - aber das vom Regisseur und Autor mitunter durchaus ratlos angestrebte Ziel, "einmal einen ganz großen Film!" zu machen, es schien in weiter Ferne.

Und jetzt, fast wie ein Schock plötzlich "Match Point": Mit Unterstützung der BBC gedreht in London, was auf den ersten Blick fast belegen mochte, das selbst in New York keine rechte Empathie für Allen aufkommen wollte. Aber, und das sieht man in diesem Film quasi ab Minute zwei, dieser wie auch immer motivierte Sprung nach good old Europe - er war in jeder Hinsicht rettend und ein Zugewinn an Horizont.

Zuerst glaubt man, wenn sich da ein junger Tennislehrer und Emporkömmling (Jonathan Rhys Meyers) einen neuen besten Freund und Förderer ködert, und das in bestem britischem Nobelclub-Ambiente, man sei in einer ultrafeinen Literaturadaption von James Ivory, und der habe E. M. Forster gegen Patricia Highsmiths "Mr. Ripley" ausgetauscht. Sehr schnell und je mehr Handlungsstränge und Episoden in dieses Drama eines talentierten Parasiten eingeflochten werden, wird aber klar: Natürlich sind wir wieder im Kosmos von Woody Allen: Dort, wo die bedrängendsten philosophischen Konflikte schnell in Stand-Up-Comedy umkippen und die peinlichsten Typen plötzlich tragisches Format gewinnen.

Endlich am Ziel?

Chris Wilton, der hochbegabte, sich manisch an jeden Karrierestrohhalm klammernde Aufsteiger - er könnte so schnell ans Ziel seiner Wünsche kommen. Bald ist klar: Eine der nobelsten Londoner Familien gedenkt ihn zu fördern, und schon steht ein hübsches und - klar - etwas langweiliges Fräulein an seiner Seite. Aber: Wer viel hat, der will noch mehr.

Chris Wilton will auch noch die wahre Liebe, sie schlägt ein wie der Blitz: Scarlett Johannson spielt die unfassbare Nola Rice, die Freundin seines zukünftigen Schwagers - und als der erste Seitensprung vollzogen ist, markiert das in "Match Point" quasi nur den Auftakt zu einer bizarren Tragödie, einer tragischen Groteske - gipfelnd in einem Doppelmord, derart quälend und verlangsamt und spannend gezeigt, als hätte Woody Allen nichts anderes geplant als eine Adaption der ersten 70 Seiten von Dostojewskis "Schuld und Sühne".

Der Titel des Films - ihm entspricht übrigens, in Zeitlupe gezeigt, ein klassischer, oft fataler Moment in Tennismatches: Der Ball berührt in einem ganz speziellen Winkel das Netz. Geht er rüber? Prallt er zurück in die eigene Spielfeldhälfte? Wie Woody Allen auch dieses Motiv drohender Niederlage immer wieder aufgreift, kippt, pervertiert - das allein ist schon eine (Drehbuch-)Leistung der Extraklasse, die dem Film eine von mehreren Oscar-Nominierungen bescheren dürfte.

Wie da irgendwann einmal die herzzerreißendste Romantik sich abwechselt mit kältesten Momenten zynischer Berechnung, und wie gleichzeitig immer wieder zwei unterbelichtete Londoner Polizei-Inspektoren über die Szene stolpern: Das sei hier nur angedeutet. Das einzige Problem, das sich bei diesem unterhaltsamen, inspirierenden Meisterwerk für die Verleiher stellen dürfte: Wie bringt man den Leuten bei, dass dieser Film nicht nur "der neue Woody Allen" ist, sondern schlicht und einfach ein Wurf, den man nicht alle Tage zu sehen bekommt? In Cannes lief Match Point "außer Konkurrenz". Er hätte trotzdem eine Goldene Palme verdient.

Wie meinte Woody Allen zu "Verbrechen und andere Kleinigkeiten": "Wir leben in einer Welt, in der man nicht bestraft wird, wenn man sich nicht selbst bestraft." Das gilt auch in Match Point. Lebenslänglich, möglicherweise. (DER STANDARD, Printausgabe, 14.10.2005) )