Seit einigen Jahren schon versteckt sich im ersten Bezirk ein kleines, russisch-georgisches Lokal, das auf den Namen "Stolichnyi" hört. Die längste Zeit schmuddelte der Schuppen einigermaßen dahin, weiße Kacheln, Neonlicht und skurrile Glasreliefs stellten sicher, dass die spärliche Laufkundschaft erst gar nicht auf die Idee kam, hier mit gastfreundlicher Aufnahme rechnen zu dürfen. Zwar stiegen immer wieder wilde Feiern von Exilrussen, die durch die großen Fenster durchaus animierend wirkten - bis auf ein paar Versprengte aus der "Broadway Bar" vis-à-vis aber trauten sich kaum Einheimische über die Schwelle.

Durchaus unbegründet: Schon damals bekam man hier neben wunderbar melancholischen Liveschnulzen und herzlichem Service auch sehr anständige "zakuski" serviert - jene kalten und warmen Vorspeisen, die den vernunftfreien Wodka-Konsum erheblich bekömmlicher gestalten.

Seit ein paar Wochen nun ist das "Stolichnyi" kaum wiederzuerkennen. Statt Neon leuchten güldene Luster und Appliken, golden wie ein Eckzahn ist das ganze Lokal, und von der Wand grüßen Dr. Schiwago und Lara (oder ähnliche Klischee-Statisten) aus einem Gemälde, das ganz sicher mindestens ein Fresko ist. Wirt Eli Raffael hat renovieren lassen, und es ist richtig schön geworden. Deshalb geht es an Wochenenden, wenn bei russischer Livemusik das Tanzbein geschwungen wird, ziemlich laut und lustig zu. Am besten kommt man zu viert oder sechst und bestellt die "zakuski" im Voraus. Dann warten die Vorspeisen schon am feierlich gedeckten Tisch, und es muss bloß noch Wodka und das (gar nicht üble) russische Bier geordert werden.

"Hering im Mantel" ist ein geschichteter Salat mit Kartoffeln, Matjes, Frühlingszwiebeln, roten Rüben und Mayonnaise, richtig köstlich. Die anderen "zakuski" geraten durchweg ordentlich, der "Spinat auf kaukasische Art" mit Zwiebeln, Nüssen, Kräutern und Granatapfelkernen aber ist schlicht großartig - so frisch und knackig und harmonisch kombiniert, dass eine Portion einfach zu wenig ist.

Bei den warmen Speisen konzentriert man sich am besten auf "syrniki", "chatschapuri", "pelmeni", "chinkali" und "wareniki" - lauter nette Teigtaschen und Fladen, die mit Fleisch, Kartoffeln, Topfen oder Käse gefüllt sind und wesentlich mehr Spaß machen als der etwas fade Borschtsch oder der trockene Schaschlik-Spieß. Die Blinis mit Keta-Kaviar sind dünn wie Palatschinken, merkwürdig blass und reichlich fischig - keine Empfehlung.

Solange ein paar Salate und, ganz wichtig, selbst eingelegtes Sauergemüse ("kapusto") auf dem Tisch stehen, solange noch ein Rest von Wodka in der Flasche ist, darf man sich hier als Teil der Familie fühlen. Spätestens wenn die ersten melancholischen Schlager intoniert und die Tische zur Seite gerückt werden, hängt Verbrüderung in der Luft wie eine fein gewürzte Wodkafahne. (Severin Corti/Der Standard/rondo/23/9/2005)