Ein das Jahrhundert übergreifendes Zerstörungspanorama: Die frühen Amerikanischen Comics, unter anderem Little Nemo (siehe unten) entstanden vor 1900 genau dort, wo später die Türme des World Trade Center stehen sollten, nämlich an der Park Row, der Nervenzentrale der rivalisierenden Medienhäuser Hearst und Pulitzer. Spiegelman verarbeitet 100 Jahre später in seinem "Schatten keiner Türme" (links) weit Beklemmenderes. Abbildungen aus dem besprochenen Band

Foto: Band

Art Spiegelman: "In The Shadow Of No Towers"
US-$ 19,95/20 Kartonblätter. New York, Pantheon 2004

Foto: Band
Ein Gespräch über ein Trauma, seine Folgen und Wurzeln. Von Michael Freund


Es war sehr schwer", erinnert sich Art Spiegelman an den 11. September 2001, "mit der Wirklichkeit mitzuhalten. Im Fernsehen konnte man es zunächst für einen besonders coolen Spezialeffekt halten. Ich brauchte sechs bis acht Monate, bis ich mich an den Gedanken gewöhnen konnte, dass es nun wohl der 12. September sei."

Jenen Tag, an dem seine Frau und er zu den World Trade Towers liefen, um ihre Tochter aus der Schule nebenan zu holen, verarbeitete der Comics-Künstler Spiegelman zu zehn überdimensionalen Bildseiten. "Ich zeichnete, während ich auf der Tragödie zweiten Teil, auf das Ende der Welt wartete. Ich war mir - wortwörtlich - nicht sicher, ob ich den Druck dieser Seiten überhaupt erleben würde."

Es ist keine der Geschichten im linearen Sinn geworden, wie er sie früher geschaffen hatte - zuletzt Anfang der Neunziger mit Maus, dem nicht gerade komischen Strip über das Schicksal seiner Eltern, die knapp dem Holocaust entkommen waren.

Diesmal geraten ihm die Ereignisse zu nicht zusammenhängenden Unter-Storys, Reflexionen über seine Paranoia, Collagen von Horror-Bildchen, Kindermund aus der Schule der Tochter ("Sie haben das Pentagon getroffen!" - "Cool!"), Allegorien der amerikanischen Öffentlichkeit als Kopf-in-den-Sand-Sträuße. Und im Hintergrund immer wieder die Türme, eine Fixierung, "die ich nur als pointillistisch vibrierendes Gerippe wiedergeben konnte, das sich langsam, Bild für Bild, neigt." In The Shadow Of No Towers erschien in der Hamburger Zeit, in der New Yorker jiddischen Zeitschrift Forward, schließlich als Buch in den USA. Auf dem Cover sind Spiegelmans schwarze Türme vor schwarzem Hintergrund (kaum) zu sehen, die bereits sein Titelbild des New Yorker nach der Katastrophe ausgemacht hatten. Hier allerdings sind sie um historische Comics-Figuren bereichert, alle im freien Fall.

Denn Art Spiegelman ist etwas aufgefallen: "Die Welt der multikulturell turbulenten, krud komischen Comic Strips entstand vor 1900 genau dort, wo später die Türme des World Trade Center dominieren sollten: an der Park Row, der Nervenzentrale der rivalisierenden Zeitungsunternehmen Hearst und Pulitzer." Und es waren Geschichten, in denen die Welt der Erwachsenen immer wieder zusammenkrachte. "Die frühen Comics waren voller einstürzender Bauten." Etwa bei Little Nemo, "der sich zwischen den Hochhäusern von Lower Manhattan auf den Weg macht, während sein Freund Flip diese Häuser umstürzt."

Nach den eigenen zehn Doppelseiten nahm Spiegelman nun weitere sieben historische Beilagenblätter in sein Buch auf, "als Zusatzgrund für das ganze Projekt. Die flüchtige Natur der Dinge wird durch sie sichtbar, das Vorübergehende von politischen Zuständen, von 110 Stockwerken hohen Gebäuden, die für alle Ewigkeit gebaut wurden." Miteinander ergeben die Teile des Buches eine dissonante Mischung. Der erste Eindruck des fast Verspielten wird schnell von einem das Jahrhundert übergreifenden Zerstörungspanorama überlagert. Eine politische Aussage, in die der Urheber aber wenig Vertrauen hat. "Diese Regierung hört ja nicht einmal auf ihre Freunde. Vielleicht sollte ich mich, als Gott verkleidet, ins Weiße Haus einschleichen."

In Europa, sagt er, werde er dafür "als untergewichtige, etwas konfuse Version von Michael Moore wahrgenommen. Und ich drücke ja nicht viel mehr aus als die dort landläufigen Ansichten. Die Redakteure der Zeit waren jedenfalls mit dem Echo zufrieden, ich könnte wohl mehr für sie machen." Aber lieber würde er "die richtigen Medikamente finden, um die Politik eine Zeit lang vergessen zu können."

Er will mit seiner Arbeit niemanden von irgendetwas überzeugen. Wenn es einen Hoffnungsschimmer gibt, dann den, "dass mein Buch bis 2008 relevant bleiben wird", für die Bush-Regierung also ein Stachel.

Kommerziell war die Veröffentlichung - eine deutsche Ausgabe ist nicht geplant - durchaus erfolgreich. Und gegen manche Vereinnahmung können sich die Schatten keiner Türme nicht wehren. Vor kurzem erschien in einem Lifestyle-Magazin eine Fotostrecke über ein Manhattaner Luxusapartment. Auf dem Kaffeetisch: Spiegelmans Buch. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 10./11.2005)