Illustration: Karl Lux

Am Abend des 1. Dezember 2002 verlor Liam Gallagher seine Zähne, nicht aber seine Würde. Der DJ einer Münchner Bar hatte eine Platte von "Oasis" aufgelegt, und Liam gefiel der Song ganz gut, also taumelte er durch den Raum, glücklich, wild, wütend, bis er mit ein paar Immobilienmaklern aneinander geriet. Man traktierte sich mit bloßen Fäusten und goldenen Aschenbechern, irgendwann dann spuckte Liam seine beiden Schneidezähne aus, zog sich mit den Fingern die Oberlippe hoch und schrie begeistert: "Look at me, look at me." Wer diesem Befehl folgte, erzählte später, Liam habe wie ein zahnloser Affe ausgesehen, wie ein gut frisierter zahnloser Affe. Denn während er weiterhin Schläge verteilte, fand er noch genug Zeit, die Haare zu ordnen, ganz majestätisch tat er das: ein König in der Schlacht, der seine Krone zurechtrückt. "Wenn du der Sänger einer Rockband bist", spricht Liam Gallagher, "dann musst du eben auf deine Frisur achten."

Das machen derzeit ziemlich viele Bands

Besonders beliebt ist allerdings nicht der kurze, fransige Pony samt langer Koteletten, wie Liam sie trägt, sondern ein langer, schiefer Scheitel, der über das halbe Gesicht fällt. Laut dem New Musical Express, der Prawda des Pop, ist das der Haarschnitt des Jahres. "Bloc Head" heißt er, weil ihn der Gitarrist der Band "Bloc Party", Russell Lissack, in Vollendung trägt. Aber auch die Kollegen von "Razorlight", "The Cribs" und "Maximo Parc" besitzen einen. Gemeinsam haben alle diese Gruppen, dass sie auserkoren sind, den Rock zu retten, wieder einmal.

Bei klassischer Musik kommt es darauf an, wie einer sein Instrument spielt; bei Popmusik: wie er dabei aussieht. Die Tolle von Elvis, die Fransen von Paul McCartney, die Stacheln von Sid Vicious waren Waffen im Kampf gegen das global organisierte Spießertum, effektiver als Demonstrationen, Flugblätter und Molotow-Cocktails. Heute entschuldigen sich die "Strokes" mit ihren strähnigen, verwuschelten Nichtfrisuren für ihre reichen Eltern und zitieren gleichzeitig ihre musikalischen Vorbilder, die "Ramones". Auch die "Kings of Leon" tragen lange Haare und Bärte, in denen sich der Schmutz der Straße sammeln soll und auch ein wenig Ehrlichkeit. Die Jungs von "Franz Ferdinand" dagegen rasieren sich die Ohren aus und kämmen streng den Scheitel. Pop, sagen sie, ist künstlich und ironisch - genau wie unsere Frisuren.

Der Bloc Head liegt irgendwo zwischen "Strokes"...

... und "Franz Ferdinand". Zwar habe er einen richtigen Haarschnitt, das schon, sagt Russell Lissack, aber ein Freund habe ihn geschnitten, kein Friseur. Zwar verdeckt der Pony dem einen Auge den Blick auf die böse Gesellschaft, bietet ihn aber ungehindert dem anderen. Konventionell unkonventionell. Gepflegt ungepflegt. Bohemian Bourgeoisie. Ähnliches hat bereits Roland Barthes beobachtet: Über die Frisur eines berühmten Zeitgenossen schrieb er, diese sei dazu bestimmt, ein Gleichgewicht herzustellen "zwischen dem kurz geschnittenen Haar (der unerlässlichen Konvention, um nicht aufzufallen) und dem vernachlässigten Haar (Zustand, der zur Bekundung der Verachtung gegenüber den anderen Konventionen geeignet ist)". Gemeint war Abbé Pierre, ein Mönch, kein Sänger, aber auch die Popstar-Frisur hat ja eine religiöse Funktion. Wenn die Fans schon nicht werden können wie ihre Götter, nicht so hübsch und nicht so cool und nicht so reich, dann können sie wenigstens deren Frisuren tragen - das ist die Demokratie von Schere und Langhaarrasierer.

Einst wollte Russell Lissack sich unterscheiden von allen anderen Menschen auf der ganzen Welt, wollte besonders und einzigartig sein. Bei seinen Konzerten nun blickt er hinab auf hunderte schiefe Scheitel, hinter denen er keine Gesichter ausmachen kann, nur noch rosa Flecken, die verschwimmen zu einer Masse, zu einem Heer von Einäugigen, die Haare sind ihre Uniform. An so etwas müssen schon Theodor W. Adorno und Max Horkheimer gedacht haben, als sie in der "Dialektik der Aufklärung" schrieben, dass die einzige Originalität des modernen Stars darin bestehe, dass ihm stets "die Locke übers Auge hängen muss." Nun kann man allerdings mit jener Locke nicht nur Persönlichkeit vortäuschen, man kann sie sich auch hinters Ohr streichen. Wenn Russell Lissack das tut, zärtlich, zaudernd, sieht es jedes Mal aufs Neue so aus, als streiche eine Prinzessin ihren hauchdünnen Schleier zurück, um ihr Gesicht freizugeben, für diesen einen Moment nur, diesen einzigen.

Eine Geste der Verführung, eine weibliche, aber ohnehin hat der Pop mehr getan für die Feminisierung des Mannes als Simone de Beauvoir, Alice Schwarzer und Judith Butler zusammen. Er hat den modernen Mann erfunden, der weich aussieht, auch noch im harten Rampenlicht. Der von seinen Gefühlen singt, anstatt zu schweigen. Der sich die militärisch kurzen Haare wachsen lässt, um sie zu frisieren. Die Emanzipation fand eben nicht nur in den Köpfen statt, sondern auch auf den Köpfen.

Allerdings haben die komplizierten Frisuren auch...

... zu komplizierten Charakteren geführt. Der Berliner Maximilian Hecker durfte anfangs nur in den Fußgängerzonen auftreten. Auf Urlaub in England ging er dann zum Friseur, sagte nur "the Liam, please", bekam Pony, Fransen, Koteletten wie das große Vorbild und bald darauf eine steile Karriere. Auf seiner ersten großen Tournee, bei einem Konzert, es war wiederum in München, klagte er über seine brüchige Stimme, verstummte dann, starrte auf den Bühnenboden, drehte sich dicke Locken ins Haar. Irgendwann boxte sich ein ungepflegter Kerl nach vorn und rief: "Lass endlich deine Frisur in Ruhe, du Mädchen. Und sing!" (Jakob Schrenk/Der Standard/rondo/05/08/2005)