Chouinard
Spitzentanz einmal ganz anders: Ballerinen auf Krücken und perfekte Körper mit Prothesen.

Die exzellente Compagnie der kanadischen Zauberin des Unkonventionellen, Marie Chouinard, die im vergangenen Sommer mit Le Sacre du Printemps und Chorale begeisterte, reist nun mit einem neuen Stück an. Im Juni hatte bODYrEMIX/gOLDBERGvARIATIONS auf der Tanzbiennale Venedig (Leitung: Ismael Ivo) Premiere, jetzt kommen zehn von Chouinards energiesprühenden Tänzern mit dieser überraschenden Arbeit ins Burgtheater.

Mitgebracht haben sie allerhand Behelfswerk: Krücken und Seile, Gurte und Stangen. Und Bach. Seine Goldberg-Variationen bilden das musikalische Gestänge, an dem diese ästhetisch herausfordernde Variation zum Thema Freiheit aufgehängt ist. Es hängen auch die Tänzerinnen. Baumeln in schwarzen Tutus am Bungee-Seil und entschweben sanft in den Bühnenhimmel.

Was bedeutet die Undefinierbarkeit des Anderen und wie manifestiert sich die Unverschämtheit des Schönen? So fragt Chouinard. Und man weiß, wenn sie etwas herausfinden will, dann mit einer unbändigen Dringlichkeit. Die orthopädischen Hilfsmittel werden den Tänzern zu dritten und vierten Beinen. Da steht ein Fuß auf Spitze, ein anderer ist bloß, dafür steckt eine Hand im Spitzenschuh.

Eine Krücke stützt den Körper, hemmt ihn aber auch. So entsteht eine ungewöhnliche Modifizierung der Gliedmaßen, und wundersame Bewegungen und Dynamiken werden möglich. Aber wer Chouinard kennt, weiß, das sind nicht bloß Spielereien zum Selbstzweck. Wie kaum eine andere schafft es die Kanadierin, aus ihren Arbeiten mit einer Vielzahl von Assoziationsmöglichkeiten eine tiefe Menschlichkeit atmen zu lassen und die Imagination der Zuschauer herauszufordern. Sie schafft formal präzise Arbeiten, die auch unterhaltsam sind.

Strengen Soli folgen üppige Gruppenstücke, und ohne anekdotenhaftes Tanztheater zu beschwören, entstehen auf ihrer Bühne vielschichtige Persönlichkeiten aus drastischer und dabei doch stilisierter Bewegung. Chouinard feiert den Instinkt auf intelligente Art. Ihre Ideen sind nicht immer neu - auch Prothesen und Krücken in Ballettabenden sind es nicht -, aber kaum ein Kritiker, der ihr nicht zugesteht, dass sie sie in etwas ganz Eigenes, Originelles verwandelt.

Inspiriert und präzise

Vorbilder, Lehrer, Mentoren? Hat sie nicht, sagt Chouinard selbstbewusst in Interviews. Ihre Inspiration kommt von allen Seiten. Zwölf Jahre lang hat die Kanadierin selbst als Solokünstlerin gearbeitet, ist mit ihren oft provokativen Performances durch die Welt gereist, lebte in New York, Berlin, Bali und Nepal.

Sie hat alles aufgesaugt, was ihr an Kulturen und Philosophien über den Weg gelaufen ist, bevor sie 1990 ihre eigene Compagnie mit Sitz in Montreal gründete. Ihre passionierten Soli von 1978 bis 1998 waren in einer Retrospektive 1999 auch bei ImPulsTanz zu sehen: "Jedes Werk ein kleines Meisterwerk der Präzision und von erfrischender Intelligenz", jubelte ein enthusiasmierter Pariser Kritiker.

Seit Mitte der 80er-Jahre wird Chouinard regelmäßig mit Preisen überhäuft, und auch andere internationale Compagnien tanzen ihre Stücke. Und immer noch scheint sie auf ihrer unbändigen Suche nach dem Wirklichen lange nicht müde geworden zu sein. Jedes neue Stück ist eine Überraschung. Konstant sind nur die Körper, die sich so herrlich genau zu artikulieren wissen. (DER STANDARD, Printausgabe, 25.07.2005)