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Manchem Workaholic steht seine Sucht ins Gesicht geschrieben. Der belgische Choreograf Wim Vandekeybus robotet zwar wie süchtig: mindestens zwei Stücke pro Jahr, Tourneen, hier ein Extraprojekt, dort ein Video, und jetzt schreibt er auch noch an einem Spielfilm. Aber der 42-Jährige sieht aus wie 30, wirkt entspannt, wenn auch voller Energie.

Er hat Organisationstalent - und ein tüchtiges Büro. "Choreografie besteht hauptsächlich daraus, Dinge zu organisieren", sagt er denn auch. Mit Blick auf seine Werke der Nachsatz: "In einem Stück muss alles so organisiert werden, dass es gelesen werden kann." Denn "die Bühne bedeutet Kommunikation." Vandekeybus versteht sich - "davor kann ich nicht davonlaufen" - als passionierter Geschichtenerzähler. Dem Stück Les porteuses de mauvaises nouvelles liegt die Geschichte vom Töten des Überbringers schlechter Nachrichten zugrunde, die sich von der Antike bis ins Mittelalter fortschreibt. Der Choreograf gab der Story eine feminine Hauptebene und begann zu abstrahieren, bis die endgültige Form erreicht war. Das war im Jahr 1989. Les porteuses war die zweite Raketenstufe des heute hoch renommierten Künstlers auf seinem Flug zum Ruhm. Im vergangenen Jahr beschloss er, sie wieder einzusetzen, anstatt für einen hartnäckig insistierenden portugiesischen Veranstalter ein neues Stück zu schaffen. Denn dafür hätte die Zeit beim besten Willen nicht gereicht.

Größer als Angst

Von sich aus hätte er das Werk, das rund 160 Aufführungen erlebt hat, ruhen lassen. "Heute bin ich eben anders als damals und mehr an psychologischen Spannungen interessiert. Mein neues Stück Puur ist wesentlich komplexer als Les porteuses. Da zeigt sich deutlich, was sich in den vergangenen 17 Jahren getan hat." Während der Neuerarbeitung von Les porteuses schrieb Vandekeybus einen Text über das Stück. "Dabei sagte ich zu mir: Shit, dieses Stück handelt von Angst! Darin wird gearbeitet und gebaut. Die Darsteller beginnen, Dinge zu sammeln und Dinge zu tun, um gegen die Angst anzukämpfen. Und dann kommt eine noch stärkere Emotion: der Wunsch, sich in Gefahr zu bringen."

Es sei nicht ganz leicht gewesen, die richtigen Tänzerinnen und Tänzer für die Wiederaufnahme zu finden, sagt er, denn: "Sie waren zwar gut trainiert, aber es brauchte eine Weile, bis sie die Intention begriffen haben. Dieses Stück kann man nicht einfach tanzen, man muss es performen. Heute geht den jungen Tänzern oft das Engagement ab. Es kann zwar alles komplexer sein, aber der Tanz ist leichter geworden, und die Leute sind freundlich zu einander, und alle essen so gesund . . ." Der letzte Satz kommt mit ironischem Unterton.

In der Arbeit für die Wiederaufnahme von Les porteuses konnten die Tänzer den persönlichen Einsatz erlernen, ohne den diese Art von Tanz undenkbar ist. Denn "das Drama und die Botschaft des Stücks sind in der Bewegung enthalten. Mein Fazit: Die Emotion, etwas zu überbringen, kann wichtiger sein als die Botschaft selbst." (DER STANDARD, Printausgabe, 26.07.2005)