Der Begriff hat einen pejorativen Beigeschmack. Aussteiger, das klingt nach einem Leben, in dem etwas schief gelaufen ist, das klingt nach verfehlter oder zu pflichtbewusster Integration, das klingt nach angegammelten Weltenbummlern und verstaubten Biobauern. Wer aussteigt, der steigt zwar irgendwo wieder ein, doch das verschweigt dieser Begriff. Ein Aussteiger ist jemand, der etwas hinter sich lässt. Vor ihm liegt die Wüste.

Lehrer und Psychologen, Ärzte und Journalisten nehmen sich heute ein Sabbatical, haben sie die Nase von ihrem Leben gestrichen voll. Einen Ausstieg auf Zeit mit inkludiertem Round-the-world-Ticket, bei dem der Wiedereinstieg bereits vorgeplant ist. Die dafür nötigen Ratgeber gibt es im Buchhandel.

Das Abenteuer mit Sicherheitsnetz hat den Kopfsprung ins Ungewisse abgelöst. Nicht, dass der Traum einer Flucht aus dem eigenen Leben schwächer geworden wäre: Die Realityshows der vergangenen Jahre waren nichts anderes als die mediale Inszenierung eines zeitlich begrenzten Ausstiegs aus dem eigenen Lebensalltag. Expedition Robinson oder Expedition Österreich waren auch deswegen erfolgreich, da sie Substitute für die Phantasmagorie des Ausstiegs lieferten. In einer kontrollierten, von Millionen Zuschauern beobachteten Softcore-Version, wohlgemerkt.

Es waren Abenteurer im Schafspelz, die hier vor den Kameras Tarzan und Jane spielten. Die Natur erschien in diesen Ausstiegsszenarios gezähmt, ein domestiziertes Paradies, wie geschaffen für all jene vor den Fernsehapparaten, die so gerne ihrem Einfamilienhäuschen Lebewohl sagen und in die Ferne ziehen würden – wenn es diese Möglichkeit denn wirklich noch gäbe. Doch alternative Lebensentwürfe haben ausgesorgt, daran haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten gewöhnen müssen.

Selbst Hollywood tischt uns das Paradies höchstens noch als zwischenmenschlichen Albtraum auf: The Beach war eine massentaugliche Bestätigung von dem, was wir alle schon längst wissen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Der Wunsch, bei der Natur Zuflucht zu suchen, unterschlägt beharrlich die Schrecken derselben – Marlen Haushofer schrieb darüber bereits in den 1960er-Jahren in ihrem Roman Die Wand, Elfriede Jelinek in den 80ern. Die angenommene Unberührtheit des Paradieses war immer eher zivilisatorische Konstruktion als reale Kategorie. Das ist uns allerdings erst spät bewusst geworden. Genau genommen erst in dem Moment, als sich die Gegenentwürfe zur bürgerlichen Gesellschaft im Dunst der zerstobenen Ideologien auflösten.

In The Pump House Gang hatte Tom Wolfe bereits 1968 die Enttäuschungen der Jugendbewegung anhand der Geschichte über die Surfer in LaJolla prognostiziert. Die Geschichte der Hippies selbst liest sich da nur mehr wie ein Nachspann. Der People's Park in Berkeley – die Wiege der Bewegung – ist heute ein trauriges Refugium für Obdachlose.

In der jüngeren Literatur – zumal der deutschsprachigen – rechnet man mit den Ausstiegsvisionen der Elterngeneration schon länger ganz unverfroren ab. Von Gerhard Seyfried bis Sophie Dannenberg geht es weniger um die Utopien von damals als um die Perversion jener Ideale, die die Aussteiger wie Monstranzen vor sich her trugen. An der Baader-Meinhof-Gruppe faszinierte mit Sicherheit auch die Unbedingtheit, mit der sie den Ausstieg aus dem gesellschaftlichen Übereinkommen vollzog. Im Mythos RAF lebt dieser Nimbus weiter.

Die Vision alternativer gesellschaftlicher Sozialformen wich spätestens in den Achtzigern einer neuen Innerlichkeit. Sie ist denn bis heute die einzige Form des Aussteigertums, die nicht gänzlich der Geschichte zum Opfer gefallen ist. Das tröstliche Dasein im eigenen Biogärtlein ist allerdings die Wiederkehr einer der regressivsten Utopien, die unsere Gesellschaft hervorgebracht hat: Das Biedermeier hat es im 19. Jahrhundert in seiner Kombination aus Weltabgewandtheit und politischem Konservatismus vorgemacht.

Man wird den Begriff "Aussteiger" zukünftig wohl selbst als einen geschichtlichen behandeln müssen. Als einen, der viel über unsere Hoffnungen und Utopien erzählt. Und der uns heute nur mehr in seiner Softcore-Variante zur Verfügung steht. (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 23./24.7.2005)