Wien/Berlin - Nach den Gesetzen des mehrheitlichen Gebrauchs ist die Entscheidung durch diejenigen, die über Praxistauglichkeit und glückliche Nutzanwendung der (deutschen) Sprache letztlich entscheiden, längst vorgenommen worden: Zwei Drittel der Österreicher, vermeldet das Fesselinstitut, befleißigen sich nach Maßgabe ihrer Kenntnisse der neuen Rechtschreibregeln, die ab 1. August 2005 hier zu Lande unwiderruflich in Kraft treten. Erst dann werden auch "Zuwiderhandlungen" schulpädagogisch geahndet.

Die bekannten Einschränkungen betreffen laut Aussendung durch Bildungsministerin Elisabeth Gehrer (VP) Fälle oder kasuistische Bedenken, deren Aufhebung ihrerseits nun durch empirische Sachwalterschaft angebahnt wird. Bekanntlich rüttelt und schüttelt ein "Rat für Änderungsvorschläge" an jenen sprachlichen Vorschreibungen, die eine Erleichterung vor allem für Schüler und Pädagogen darstellen sollen.

Noch unübersichtlicher stellt sich die Lage mit Blick auf Deutschland dar: Im Konzert der größtenteils "schwarz" regierten Bundesländer scheren mit Bayern und Nordrhein-Westfalen ausgerechnet die beiden bevölkerungsstärksten Länder aus der Phalanx der Reformwilligen aus. In den Landeskanzleien wird sozusagen noch einmal das Vorrecht der Empirie eingeklagt: Man strichelt "veraltete" Schreibweisen mit dem Rotstift an, ohne dem lernwilligen Delinquenten vorerst daraus einen Strick zu drehen. Eine Sache, deren Wohl unbestreitbar vom normativen Gestaltungswillen aller beteiligten Beschlussfassenden abhinge, wird - mit unterschiedlichen Rechtsvorschreibungen - noch einmal weiter verwiesen: an ein reichlich nebulöses Feld des praxisorientierten Vollzugs.

Auch in Österreich - wie übrigens zudem in Südtirol, in der Schweiz und in Liechtenstein - werden die Modalitäten der Getrennt-/Zusammenschreibung, der Zeichensetzung und der Worttrennung am Zeilenende absichtsvoll in Schwebe gehalten: Gemeinhin gilt, dass man sich der einschlägigen Vorschreibungen bedienen kann, wie es einem gefällt. Beurteilungsprobleme dürfen den Sprachstellern daraus nicht erwachsen. Die Auswirkungen einer Praxis, die bisher an "Rechtschreibrebellen" wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und an einer Vielzahl von reformresistenten Autoren zuschanden zu gehen drohte, betreffen daher Alltäglichkeiten: Man hat den Widerwillen gegen drei aneinander stoßende Mitlaute (wie bei "Schifffahrt") zu bezähmen gelernt. Man verliert das scharfe "s" ("ß") zusehends aus dem Blick, da es nach kurzen Vokalen dem gedoppelten "s" weicht. Orthografen lernen die Beistrichsetzung zunehmend einer Praxis anzupassen, die dem rhetorischen Gewicht von Appositionen (Beifügungen) ein neues Gewicht verleiht. Der Wahnsinn lauert eher im Detail der (überwiegend semantisch gehandhabten) Klein- und Großschreibung. Die siebenjährige Übergangsfrist verlischt. Das schöne Niedersachsen war sich erst im allerletzten Moment seiner Vorgangsweise gewiss: "Wir schreiben neu!" (DER STANDARD, Printausgabe, 21.07.2005)