Gesellschaftskritische Alltagsszene von Francisco de Goya: "El albanil herido" (Der verletzte Maurer, 1786/87, Ausschnitt)

Foto: Prado
... als wohl eines der wichtigsten Kunstereignisse dieses Sommers. Ab 18. Oktober ist die in Kooperation mit dem Kunsthistorischen Museum geplante Ausstellung in Wien zu sehen.


Von links unten blickt der Maler Goya auf die Familie des Infanten Don Luis de Borbón. Es ist das Jahr 1783. Noch sind die Herrscherdynastien in Europa nicht gestürzt. Aber die neue Zeit deutet sich schon an in der Pose des Auftragsmalers, der den Hofstaat und des sen Personal in einer Weise antreten lässt, die zwischen diesen Funktionen keinen klaren Unterschied mehr erkennen lässt. Don Luis sitzt am Tisch, vor ihm liegen die Karten, aus denen er die Zukunft lesen möchte. In seinem Rücken sitzt der Maler, der sie auch nicht kennt, der sie aber als Ahnung zu repräsentieren vermag.

Die Spannung zwischen der sichtbaren Alltagswelt und der phantasmagorischen Traumwelt bestimmt das Werk von Francisco de Goya (1746–1828). In einer eben eröffneten Ausstellung in der Alten Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel wird er als Prophet der Moderne gedeutet. Diese Kooperation der Staatlichen Museen zu Berlin mit dem Wiener Kunsthistorischen Museum wird als eines der wichtigsten Kunstereignisse dieses Sommers verkauft. Die langen Warte schlangen vor dem Museum deuten schon am ersten Tag darauf hin, dass das Publikum das ebenso sieht.

Goya ist im kollektiven Gedächtnis vor allem mit dem Capricho 43 Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer bekannt. Im Spanien nach der Inquisition entsteht die moderne Subjektivität aus dem Ringen mit Schuldgefühl und der Einsamkeit des todesnahen, ungetrösteten Menschen. Ein nächtlicher Wanderer hüllt sich zum Schutz in ein weißes Tuch, während über ihm in einem Gemälde von 1797 der Flug der Hexen in einer ganz anderen Erkenntnis ordnung stattfindet.

Der Hof der Irren

Goya hat die Brüche zwischen diesen Ordnungen gemalt, aber auch die Institutionen, in denen die Opfer der neuzeitlichen Rationalität eingesperrt wurden. Der Hof der Irren (1793) ist eine Ecke ohne Ausweg, über der sich nur ein grauer Himmel öffnet. Die Gesichter der Insassen sind entstellt nicht von innen, sondern von außen, als trügen sie Masken. Als Goya drei Jahre später eine Tuschzeichnung der Herzogin von Alba mit erhobener Hand anfertigt, wirkt ihr Gesichtsausdruck ganz ähnlich. In der Alten Nationalgalerie – dem ersten vollständig und prächtig renovierten Gebäude auf der Museumsinsel, die noch viele Jahre eine Baustelle sein wird – gibt es aber auch den anderen Goya, den Maler der Immanenz, zu sehen. In vielen Szenen aus der spanischen Landschaft spielt die Tierwelt eine wichtige Rolle. Sie dient ihm später dazu, die Schrecken der Kriege zu veranschaulichen. Hier aber sind die Tiere eine stille Form von Natur, oder aber auch: Beute und Nahrung. Die Goldbrassen sind aufgeschlichtet wie ein Schatz, die Hasen liegen verrenkt auf dem Boden.

Beinahe scheint es, als wären die Herrscherporträts nur die andere Seite des Bestiariums. Hoch über den Zugang zum größten Raum haben die Gestalter der Ausstellung das Bild zweier streitender Katzen gehängt wie einen ironischen Kommentar. Goya selbst hat 1824 einen Intellektuellen als Animal de letras gezeichnet, als Gebildetes Tier – eine lesende Katze, die E.T.A. Hoffmann entlaufen sein könnte.

Mehr als 40 Zeichnungen überwiegend aus dem Prado zählen zu den Schätzen von Goya. Prophet der Moderne. In der kleinen Form erweist sich der Maler als experimentierfreudig. Da kann er Szenen aus dem Karneval wörtlich nehmen wie die Zerteilung einer alten Frau, die eigentlich die Halbzeit der Fastenzeit bezeichnet, hier aber tatsächlich als nächtliches Sägeattentat aufgefasst wird. Es ist ein weiter Weg von den Tapisserie entwürfen für den spanischen Hof aus den 1770er-Jahren zu diesen Zeichnungen.

Epochenschwelle

Die Ausstellung ermöglicht es, diesen Lebensweg eines Künstlers an der Epochenschwelle in ein paar Räumen abzuschreiten. Die Imagination von Goya gilt als zugänglich, weil er näher am modernen, autonomen Selbstverständnis war als die großen Vertreter der Klassik. Wie alle Propheten spricht er jedoch in vielen Sprachen, und die Übersetzung fügt sich bei Goya nicht einfach zu einer Botschaft. Das Verdienst der Ausstellung, die ab 18. Oktober in Wien gezeigt wird, ist es, Goya in seiner Heterogenität zu zeigen, ihn nicht auf seine Botenfunktion zu reduzieren, sondern ihn in einem Prozess der ständigen Revision zu zeigen. Jede Kritik einer einsinnigen Fortschrittsmoderne findet bei ihm Inspiration schon am Beginn. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15.7.2005)