DER STANDARD
London - Es ist ein großes Puzzle, und nach dem, was Scotland Yard jetzt mit einiger Gewissheit rekonstruieren kann, begann der Tag des Terrors von London bei "First 24 Hours", einem Mietwagenverleih in der nordenglischen Stadt Leeds. Mit einem gemieteten Kleinst-Pkw fuhr Shehzad Tanweer an jenem 7. Juli nach Luton, neben und hinter ihm saßen zwei seiner Kumpane.

19-jähriger Attentäter

Der eine, Hasib Hussain, 19 Jahre alt, wird als Enfant terrible seiner Familie beschrieben. Früher soll er sich gern gerauft haben, oft von zu Hause weggerannt sein, doch vor 18 Monaten begann er, täglich intensiv zu beten. Der andere, Mohammed Sadique Khan, 30, verheiratet, Vater eines Kindes, studierte einst wie seine Ehefrau an der Universität Leeds. Glaubt man englischen Zeitungsberichten, dann hielt Khan nie etwas davon, Vollbart oder Gebetskappe, die Erkennungszeichen frommer Muslime, zu tragen.

In Luton, einer Automobilstadt nördlich von London, parkten die drei Bombenleger den Wagen, den Tanweer gemietet hatte, am Bahnhof. Dann lösten sie Fahrkarten in die Hauptstadt. Ein Vierter, dessen Name am Mittwoch noch nicht bekannt war -bislang nennt man ihn den "Mystery Man" -, stieß dazu. Mit "Thameslink", einer Route, die von Luton im Norden bis nach Wimbledon im Süden Londons führt, erreichte das Quartett kurz vor 8.30 Uhr King's Cross. Eine Überwachungskamera hat sie gefilmt: Vier junge Männer, jeder mit Rucksack, die aussehen, als seien sie auf dem Weg zum Angeln oder zum Zelten. Völlig unverdächtig.

In King's Cross trennten sie sich. Shehzad Tanweer nahm die Circle Line in Richtung Osten, sein Sprengsatz detonierte um 8.50 Uhr zwischen Liverpool Street und Aldgate. Mohammed Sadique Khan fuhr mit derselben Linie nach Westen, die Bombe in seinem Rucksack detonierte zeitgleich an der Edgware Road. Der "Mystery Man" setzte sich in einen Zug der Piccadilly Line. Dort, zwischen King's Cross und Russell Square, 30 Meter unter der Erde, sind die meisten Opfer zu beklagen. Hasib Hussain, der Jüngste, sollte wohl ursprünglich die Northern Line attackieren, die aber musste wegen eines technischen Fehlers eine Zwangspause einlegen. So stieg er - bisher ist das Spekulation - in einen roten Doppelstockbus der Linie 30. Im Kulturviertel Bloomsbury, an der Ecke Woburn Place/ Tavistock Place, jagte er sich und mindestens zwölf Passagiere in die Luft.

Ein Anruf der Mutter

Es war Hasib Hussains Mutter, die Scotland Yard auf die erste heiße Spur brachte. Am 7. Juli, abends gegen zehn, rief sie die Polizei an: Sie mache sich Sorgen um ihren Sohn. Dazu lieferte sie eine genaue Beschreibung des Jungen. Daraufhin entdeckten Ermittler den Teenager auf den Filmen der Überwachungskameras. Hussain war nicht allein auf den Bildern, erkennbar gehörte er zu einer Vierergruppe - der erste Verdacht.

Wieso Briten? Warum aus Leeds? Was lief falsch in ihrer Kindheit, ihrer Jugend? Es war Fassungslosigkeit, die am Mittwoch die Londoner Kommentarspalten beherrschte. "Wie bei einem Erdbeben haben die Londoner Bomber ein Nachbeben erzeugt", schrieb Jonathan Freedland im Guardian. "Wäre es eine ausländische Zelle gewesen, wie bei den Zugbomben in Madrid, dann hätten wir uns damit trösten können, dass dies ein externes Phänomen war." Was die Gemüter genauso bewegt, ist die Frage: Wer sind die Drahtzieher? Wo leben sie? Die Antiterrorspezialisten glauben, dass die vier Attentäter nur willige Fußsoldaten waren, gelenkt von professionellen, kaltblütigen Planern.

Leeds-Beeston kein Brandherd

Die Colwyn Road in Leeds-Beeston, wo Shehzad Tanweer wohnte, der Colenso Mount im selben Stadtteil, wo Hasib Hussain zu Hause war, das sind keine Viertel, die sich abkapseln. Es gibt solche Gettos im Vereinigten Königreich, in Bradford etwa oder in Oldham. Dort hatten sich frustrierte Jugendliche, meist pakistanischer Herkunft, vor vier Jahren erbitterte Straßenschlachten mit der Polizei geliefert, Barrikaden gebaut, Brandflaschen geworfen. Dort hängt in Gemeindeclubs und Teestuben die pakistanische Flagge, nicht der britische Union Jack. Bradford und Oldham sind als Brandherde bekannt, nicht aber Beeston.

Nun gibt es Stimmen, die dazu aufrufen, tiefer zu bohren, kritischere Fragen zu stellen. Eine solche Stimme ist Baroness Kishwer Falkner of Margravine. Die 50-Jährige, eine gebürtige Pakistanerin, die auf roten Polstern im britischen Oberhaus sitzt, verlangt von der muslimischen Gemeinde, "sich selbst ein paar harte Fragen zu stellen". Zum Beispiel über die Balance zwischen Rechten und Pflichten. Es gehe nicht an, so die Baroness, einerseits alle Vorteile einer modernen Gesellschaft zu genießen, gute Bildung et cetera, aber andererseits "die Werte dieser Gesellschaft nicht zu kommunizieren". (DER STANDARD, Printausgabe, 14.07.2005)