Letzte Woche diskutierten Experten, darunter auch der Historiker Andre Liebich, an der Diplomatischen Akademie über aktuelle Konflikte rund um die Staatsbürgerschaftspolitik in der EU. Im Gespräch mit András Szigetvari fordert er eine vereinheitlichte Politik in diesem Bereich.

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STANDARD: In den neuen EU-Mitgliedsländern lebt eine Vielzahl von Menschen, die einer Minderheit angehören. Viele davon, etwa die Roma, sind verarmt und werden diskriminiert. Hat sich die Minderheitenpolitik in Osteuropa rund ein Jahr nach der EU-Erweiterung verändert?

Liebich: Brüssel hat erwartet, dass die osteuropäischen Staaten die Probleme der Minoritäten noch vor ihrem Beitritt lösen. Die meisten Probleme wurden aber nicht gelöst. Skurril ist, dass die EU zwar vor dem Beitritt eines neuen Staates dessen Minderheitspolitik überwachen kann. Ist aber ein Land einmal beigetreten, ist die EU dazu politisch nicht mehr berufen. Und jetzt wirkt eben die Belohnung für Reformbereitschaft - die Beitrittskarotte - nicht mehr.

STANDARD: Es gibt also kaum Fortschritte?

Liebich: Die Sensibilität für Minderheitenfragen ist in ganz Europa, auch im Westen, gewachsen. In den EU-Institutionen hat sich vor 1989 niemand Gedanken über Minderheitenfragen gemacht. Inzwischen ist das anders. Sogar in der Verfassung gibt es ja Klauseln über Minderheitenrechte. Aber auch Volksgruppen entdecken jetzt, dass sie ihre Interessen in Brüssel durch stärkere Kooperation besser durchzusetzen können. Da wird es auf EU-Ebene noch interessante Allianzen geben. Etwa zwischen Katalanen, Basken und Auslandsungarn. Oder der russischen Minderheit im Baltikum.

STANDARD: Wird diese Sensibilisierung konkrete politische Auswirkungen haben?

Liebich: Bis heute sind die Türken in Deutschland rechtlich nicht als Minderheit anerkannt, wie die Dänen in Schleswig-Holstein. Die Idee, dass Migranten, im Gegensatz zu historischen Minoritäten, rechtlich nicht als Minderheit betrachtet werden, wird aufgegeben werden müssen. Das ist natürlich kein vorgezeichneter Weg, es gibt ja bekannte populistische Gegentendenzen.

STANDARD: Sie haben bei Ihrem Vortrag an der Diplomatischen Akademie gesagt, in Osteuropa würden viele Länder ihre Staatsbürgerschaftspolitik dazu benutzen, um historische Ungerechtigkeiten wieder gutzumachen.

Liebich: Länder wie Tschechien oder Estland betreiben diese Politik. Die Tschechen vergeben die Staatsbürgerschaft an Personen, die dieser während der kommunistischen Zeit beraubt wurden. In Estland haben nationale Parteien ein Gesetz erlassen, das auch lang ausgewanderten Esten die Staatsbürgerschaft gibt. Ungarn und die Slowakei haben wiederum Gesetze,die im Ausland lebenden Angehörige der eigenen Volksgruppe besondere Vorteile, etwa am eigenen Arbeitsmarkt, zusichern. Ungarn hat es zwar per Referendum abgelehnt, die Staatsbürgerschaft an die Auslandsungarn zu vergeben, ich bin mir aber sicher, diese Debatte wird wiederkehren.

STANDARD: Ist diese Geschichtskorrektur mittels Staatsbürgerschaftsgesetzen politisch bedeutend?

Liebich: Sie ist bedeutend. Vor allem, wenn mit der Staatsbürgerschaft auch das Wahlrecht verbunden ist. Wenn 30.000 Esten in Toronto bei estländischen Wahlen partizipieren, kann das in einem so kleinen Land viel bewegen. Andererseits hat die Politik in Estland dazu geführt, dass eine große Anzahl an Russen, die dort leben, die Staatsbürgerschaft vorenthalten wird. Weil all jene sie bekommen, die bereits 1940 Esten waren, oder deren Nachkommen.

STANDARD: Plädieren Sie für einheitliche Staatsbürgerschaftsgesetze in der EU?

Liebich: Ja, das wäre sinnvoll. Wenn es staatliche Unterschiede in der Politik gibt, sollten die begründbar sein. Kernstück einer vereinheitlichten Staatsbürgerschaftspolitik sollte sein, dass jeder, der in einem EU-Staat geboren wird, dort auch Staatsbürger werden kann. Die Abstammung sollte dabei egal sein. Dadurch könnten Menschen auch schneller integriert werden. Natürlich müsste man Schutzklauseln einführen. Etwa, wenn jemand am Flughafen geboren wird. (DER STANDARD, Printausgabe, 9.7.2005)