Ungebändigtes Begehren mündet in Obsession mündet in Schall und Rauch: "My Summer of Love".
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"My Summer of Love", der neue Film von Pawel Pawlikowski, erzählt von zwei unterschiedlichen Mädchen, die sich einen Sommer lang eine romantische Ersatzwelt erschaffen. Dominik Kamalzadeh traf den polnisch-britischen Regisseur zum Gespräch.

Wien - Die Welten von Mona und Tamsin, zweier Mädchen aus West Yorkshire, werden durch Gegensätze bestimmt: Die eine wohnt über dem dörflichen Pub, mit ihrem Bruder, der aus dem Gefängnis als gläubiger Christ zurückgekehrt ist; die andere verbringt hier, gelangweilt von ihrer bürgerlichen Familie, in einer herrschaftlichen Villa am Hügel die Sommerfrische.

Pawel Pawlikowskis - bereits mehrfach preisgekrönter - Film My Summer of Love lässt die beiden einen Sommer lang in eine Parallelwelt eintauchen, in der sich die sozialen Werte und Klassenunterschiede (scheinbar) verschieben: Mona und Tamsin üben sich in neuen Posen, tanzen zur "wunderbar tragischen" Edith Piaf - und irgendwann sind sie Hals über Kopf ineinander verliebt. Ein Film über (autosuggestive) Blendungen und ungebändigtes Begehren, mit zwei schauspielerischen Entdeckungen: Natalie Press und Emily Blunt.

STANDARD: "My Summer of Love" basiert auf einem Roman von Helen Cross. Sie hielten sich aber nur lose daran.
Pawlikowski: Ich behandle Bücher eher als Inspirationsquelle. In Helen Cross' Buch fand ich eine großartige Figur und Stimme: Mona, die Icherzählerin. Ich mochte dieses zynische, versponnene, ein wenig naive Mädchen, eine rebellische 16-Jährige mit viel Imagination, aber wenig Information. Ihre Stimme erinnerte mich an "Der Fänger im Roggen". Im Grunde war ich nur an ihr und der Obsession mit dem anderen Mädchen, Tamsin, interessiert, der anderen Welt, die sie verkörpert. Sie ist eine täuschende, verführende, sich selbst dramatisierende Kraft.

STANDARD: Der Film kommt mit wenig Dramatik aus. Ging es Ihnen mehr um die innere Dynamik der Figuren?
Pawlikowski: Ich wollte einen Film machen, der nicht buchstäblich ist, nicht behände geschrieben wirkt und keine klassischen drei Akte hat. Ich habe also sehr viele erzählerische Aspekte des Buches fallen gelassen und machte daraus eine zeitlose Parabel. Was auch ganz wichtig war: dass Mona heute glaubwürdig wirkt. Sodass man auch eine Schauspielerin finden konnte, die sie zu spielen vermag. Die Widersprüche der Figuren wurden so zum wichtigsten Aspekt des Films. Ich wollte keine Typen, sondern Menschen, die sich natürlich entwickeln. Das britische Kino ist sonst ja voll von dieser seriellen Schonkost.

STANDARD: Es gibt aber deutliche Hierarchien in diesem Beziehungsgeflecht.
Pawlikowski: In England leben Menschen zwar oft sehr nah nebeneinander, aber wie Mona und Tamsin in völlig verschiedenen Welten. Das Klassensystem ist dabei meiner Ansicht nach weniger ökonomisch strukturiert, sondern kulturell. Es gibt kaum soziale Mobilität in Gegenden wie West Yorkshire. England ist heute ein ganz schön heruntergekommenes Land, was soziale Gerechtigkeit anbelangt. Und was Monas Schwärmen für Tamsin betrifft: Diese Obsession für das Bild eines anderen Menschen, das sich dann plötzlich in Schall und Rauch auflöst, kennt ja jeder ein wenig. Insofern habe ich diese Beziehung schon auch an eigene Erinnerungen angelehnt.

STANDARD: Schon in "Last Resort" war der Raum sehr hermetisch, fast abstrakt. Wie finden Sie Ihre Orte und was genau suchen Sie dort?
Pawlikowski: Es gibt viele "Ränder" in England. Wenn ich mich auf einen Film vorbereite, reise ich zuerst immer viel mit einem Fotoapparat. Dabei finde ich solche Orte: ein Seebad, in das keine Touristen mehr fahren; einen Industrieort mit einer Fabrik, die nichts mehr produziert; eine Kirche, die zu einem Teppichkaufhaus wurde. Geisterorte, die über ihren eigentlich Zweck hinaus existieren. Sie sind äußerst typisch für England, ein Effekt des ökonomischen Booms der Thatcher-Ära, der eine spirituelle Einöde hinterlassen hat.

Aber mir geht es nicht so sehr darum, die Orte so zu zeigen, wie sie sind; die Täler von West Yorkshire in My Summer of Love sind eher ein melancholisches Destillat. Wenn es etwas Ursprüngliches für mich in diesem Land gibt, dann ist es nicht dessen falsche Vitalität, sondern das England von Menschen, die sich mit Sehnsucht und dem Bedürfnis nach Transzendenz am Leben halten.

STANDARD: Sie arbeiten bevorzugt mit langen Brennweiten. Die Bilder wirken oft fragil. Wie hat sich dieser Stil entwickelt? Pawlikowski: Sehr organisch. Für My Summer of Love waren mir zwei Aspekte besonders wichtig: die Landschaft und das menschliche Gesicht. Komplizierte Kameramanöver lenken für mich vom Wesentlichen ab. Ich arbeite vor allem mit Totalen und Nahaufnahmen, um das Bekannte ein wenig zu verfremden. Mit langen Brennweiten, Einstellungen, die aus dem Zentrum gerückt sind, mit saturierten Farben kreiere ich eine Welt, die zwar real ist, aber auch immer ein wenig verinnerlicht - also imaginiert. Umgekehrt sind die Großaufnahmen aus der Hand gefilmt und leicht verwackelt: So bringen sie die Nuancen des Schauspiels stärker hervor - was jetzt nicht heißt, dass ich Naturalist bin. (D ER S TANDARD , Print-Ausgabe, Samstag/Sonntag, 2./3. Juli 2005)