Die Europäische Union befindet sich in einer tiefen Krise, und die Suche nach den Sündenböcken, den "destruktiven Kräften", ist in den Medien und Kanzleien in vollem Gange. Es ist also nicht überraschend, dass auch die Massenblätter je nach nationaler Farbe gegen die Bösewichte und im Allgemeinen gegen die Brüsseler Bürokraten schimpfen.

Nur die Neumitglieder aus Mittel- und Osteuropa haben für ihren Vorstoß im letzten Augenblick, Opfer für das EU-Budget zu bringen, Lob geerntet. "Ich habe mich geschämt", sagte der luxemburgische Premier und gescheiterte Chefvermittler Juncker nach dem Gipfel ergriffen, und sogar der französische Präsident Chirac, der noch vor allzu langer Zeit den Osteuropäern den Mund verbieten wollte, war gerührt. Natürlich standen hinter der noblen Geste auch handfeste politische und finanzielle Interessen.

In der turbulenten, aber im Grunde bisher doch erfolgreichen Geschichte der europäischen Integration können freilich auch kleine Länder eine wichtige Rolle spielen.

Nach dem Rotationsprinzip übernimmt jeder Mitgliedstaat für sechs Monate den Vorsitz. Ab 1. Juli sind die Briten dran, und anschließend folgen Österreich und ab Juli 2006 Finnland.

Da Tony Blair bei dem Scheitern des Gipfeltreffens eine umstrittene Rolle gespielt hat, ist von der britischen Präsidentschaft kaum ein Durchbruch zu einem tragbaren Kompromiss zu erwarten. Dadurch bekommen jene beiden Kleinstaaten, Österreich und Finnland, die vor zehn Jahren der EU beigetreten sind, eine Chance, die Weichen für die Zukunft Europas mitzustellen.

Von Bruno Kreisky bis Franz Vranitzky haben die sozialdemokratischen Regierungschefs der Zweiten Republik eine wichtige und allgemein anerkannte positive Rolle bei der Eingliederung Österreichs in die europäische Integration trotz der seinerzeitigen Querschüsse aus Moskau und der populistischen Angriffen von rechts gespielt.

Die fantasievolle und auch wirtschaftlich erfolgreiche Ostpolitik gehört zu den unbestrittenen Errungenschaften der Ära Bruno Kreisky.

Was hätte wohl aber der erfolgreichste Politiker der Zweiten Republik, dessen Todestag sich demnächst zum 15. Mal jährt, zur Haltung seiner Erben nach dem Debakel in Brüssel gesagt?

Man kann, ja man soll über die Zukunft Europas debattieren und streiten, aber mit der billigen und plumpen Methode, Stopptafeln in jeder Richtung aufzustellen, und mit Panikmache, die von den Leserbriefspalten der Massenblätter hätte stammen können, begibt man sich zweifelsohne in eine folgenschwere Sackgasse.

Alle wichtigen Entscheidungen, einschließlich der Ratifizierung der Europäischen Verfassung, wurden im Nationalrat auch von der SPÖ mitgetragen. Kein Land außer Deutschland hat so viel von dem Zusammenbruch des Kommunismus und der Öffnung Mittel- und Osteuropas profitiert wie Österreich.

Gerade für die kleinen Staaten steht viel auf dem Spiel. Bundespräsident Heinz Fischer hat mit seiner kürzlichen, vorsichtig formulierten, aber doch unmissverständlichen und vor allem rechtzeitigen Mahnung an die SPÖ-Spitze staatsmännisch gehandelt.

In den Kernfragen der Außenpolitik dürfen große Parteien, ob sie in der Regierung oder in Opposition sind, nicht nach den Schlagzeilen der Boulevardblätter schielen. Sie müssen ihren Prinzipien und ihrer Vergangenheit treu bleiben. Gerade die letzten Jahre zeigen, dass man mit populistischen Slogans nur kurzfristig punkten kann. Die Ausnützung der Chance der Ratspräsidentschaft liegt im gemeinsamen Interesse des Landes.

Ohne den Konsens der beiden Großparteien wäre einst auch weder der Staatsvertrag vor 50 Jahren noch der EU-Beitritt 1995 möglich gewesen. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.6.2005)