Nachbarschafts- geschichte: Martin Kneip, Alix Paulus, Birgit Johler, Peter Koppe und Barbara Kintaert (von links) vor dem Charity-Abend im März dieses Jahres.

Foto: Rottenberg
Irgendwann sind die älteren Herrschaften dann mit der alten Dame ins Gespräch gekommen, erzählt Alix Paulus. Und plötzlich sei die Welt klein geworden. Damals, vor zwei Jahren in Ascona. Die alte Dame kam aus New York. Die älteren Herrschaften aus Luxemburg. Aber alle kannten die Servitengasse in Wien.

Die Luxemburger, weil ihr Sohn - der Ehemann von Alix Paulus - hier wohnt. Die Dame aus New York, weil ihr verstorbener Ehemann, der New Yorker Kunstbuchverleger Paul Steiner, hier aufgewachsen ist, hier gelebt und - auch als Sekretär von Egon Friedell - gearbeitet hat. Bis er flüchten musste. Damals. Nach 1938.

Aber daran, dass ein Paul Steiner einmal in der Servitengasse gelebt hat, meinte Frau Steiner, erinnere sich in Wien niemand mehr. Die einen, weil sie nicht wollen - und die anderen, weil es ihnen niemand sagt. Weil es große Tafeln und Denkmäler für berühmte Menschen gibt, aber keine Spuren von "normalen" verschwundenen Nachbarn.

Was die aus Deutschland stammende Dame aus New York - damals - noch nicht wusste: Alix Paulus, ihr Mann Martin Kneip und ihre Nachbarn Barbara Kintaert und Peter Koppe recherchierten da schon just diese Schicksale und Geschichten: Irgendwann, erzählen die Servitengässler, sei beim nachbarschaftlichen Gespräch die Frage aufgetaucht, wie sich Anschluss, Vertreibung und Vernichtung aller "Nichtarier" denn hier - also im Haus Servitengasse 6 - abgespielt habe.

Der Abend ging, aber die Frage blieb - und gemeinsam mit der Historikerin Birgit Johler begann man zu recherchieren. Schließlich waren nach 1938 hier 14 von 28 Hausparteien "verschwunden".

26 Einzelschicksale

In minutiöser Kleinarbeit wurden so die Geschichten und Schicksale von 26 Vertriebenen und Ermordeten nachgezeichnet. Ganz ohne Betroffenheitsinszenierung. Ohne Medientamtam. Und ohne Selbstbeweihräucherung.

Und man war, erzählen die Haus-Historiker, mit der Recherche allein nicht zufrieden: Im März baten sie zu einem Benefizabend im Jüdischen Museum, um eine Erinnerungstafel am Haus zu finanzieren (wie es gelang, die überhaupt durchzuboxen, ist eine andere, ebenfalls mühselige, Geschichte). Schließlich, erklärte der Autor Doron Rabinovici dort, ist es einer der schlimmsten Flüche des Judentumes, jemandem zu wünschen "Deiner soll nicht gedacht werden". Im September, erzählt Alix Paulus, wird die Tafel montiert. Wider den Fluch des Vergessens.

Freilich: Mit der Suche nach den Vertriebenen des eigenen Hauses kamen neue Fragen. Fragen, nach den Verschwundenen der Nachbarhäuser. Nach den anderen Verjagten der Servitengasse. Nicht die nach Zahlen - es geht um Namen. Nach Geschichten. Nach Gesichtern und Schicksalen. Kurz: um Menschen.

Mittlerweile, erzählt Alix Paulus, ist die Hausgemeinschaft von Nummer 6 nicht mehr allein: Studenten der Filmakademie wollen nun das Projekt begleiten. Öffentliche und halböffentliche Stellen bekunden Interesse und sprechen von Förderung und Hilfe. Und auch von Schulen der Umgebung gebe es Anfragen, wie man mitarbeiten könne.

In New York verfolgte Marianne Steiner all diese Bemühungen lange still und aufmerksam. Zu Frühjahrsbeginn schrieb sie dann einen Brief an den STANDARD. Er klang wie der Seufzer eines Menschen, dem eine schwere Last abgenommen wird: "Nothing like this has been done in Austria - not like in Germany." Aber Paul Steiner, schrieb Marianne Steiner, wäre einer der Menschen, an die man sich nun auch dort, wo sie zu Hause waren, erinnern würde. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 22.06.2005)