"Das. Das war es. Jetzt hat es begonnen." Diese energischen Sätze, Auftakt von Inger Christensens 460 Seiten umfassendem Poem mit dem Titel "det/das", benötigten mehr als 30 Jahre, um vom Dänischen ins Deutsche übertragen zu werden. Dabei handelt es sich bei diesem Langgedicht um eines der wichtigsten, schönsten, tiefsinnigsten und zugänglichsten lyrischen Werke aus dem Nachkriegseuropa.

Superlative sind hier keineswegs deplatziert. Denn als dieses Buch im Jahr 1969 erschien, da war die am 17. Januar 1935 geborene Inger Christensen, die neben dem Lehramtsstudium etwas Medizin und Mathematik gehört und anschließend zwei Jahre an einer Kunsthochschule gelehrt hatte, bereits mehrere Jahre als freie Schriftstellerin in Kopenhagen tätig, verkaufte sich die Erstauflage von 15.000 Exemplaren fast im Handumdrehen. Und Christensen machte sich in der dänischen Gegenwartsliteratur mit diesem Langgedicht einen Namen, der sich bald schon in ganz Europa verbreitete.

"Wird etwas. Etwas neues. Etwas immer neueres. Wird im nächsten nur so neu wie es nur werden kann." Das alles umfassende und allem Ausdruck gebende Langgedicht war dichterische Forderung der 60er-Jahre, propagiert etwa vom Schweden Lars Gustafsson. Auch jenseits des Atlantiks entstanden damals im Rückblick gewaltige Langgedichte und Dichtungszyklen - Charles Olsons Maximus Poems etwa, James Merrills The Changing Light at Sandover, vor einigen Jahren Derek Walcotts Omeros -, die mittlerweile zur Weltliteratur zählen.

Und Weltliteratur entsteht auch in Kopenhagen, der Stadt, in der Inger Christensen seit 1962 lebt: "In der Dag Hammarskjölds Allé in Kopenhagen, im vierten Stock des Hauses Nummer 5, schlägt das Herz der modernen europäischen Poesie" (Michael Braun). Christensen ist vielfältig ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Münsteraner Lyrik-Preis, dem Lyrik-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und im Jahr 1994 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Auch für den Literaturnobelpreis wird sie schon seit längerem gehandelt.

Lyrische Essays

Ich habe versucht, von einer Welt zu erzählen, die es nicht gibt, damit es sie gebe." Bei Christensen ist die Welt philosophisch. Ihre Essays sind lyrisch, ihre Lyrik essayistisch. Die Gedichte sind sinnlich und zugleich einem rigiden, ausgefeilten Konstruktionsprinzip unterworfen und, verblüffend genug, genussvoll und verständlich. Sie sind einfach zu lesen, weil sie in Alltagssprache geschrieben sind und fast kunstlos wirken.

Doch unter der Oberfläche verbirgt sich mehr, viel mehr. Inger Christensen ist eine der profiliertesten und formbewusstesten Denkerinnen der Gegenwart im Gedicht. Der kürzlich verstorbene deutsche Dichter Thomas Kling nannte sie "die Mathe-Spezialistin unter den Gegenwartsdichtern" und schrieb: "Inger Christensen fasst Dichtung auf als flirrendes Vielmehr und gesteuerten Molekülesturm." Im Zentrum ihrer Arbeiten steht eine romantische Ur-Utopie. Dass das Benennen der Dinge mit den Dingen zusammenfallen möge. Dass die Welt, trifft man nur das Zauberwort - Christensen kennt die deutschen Romantiker gut -, zum Bewusstsein ihrer selbst käme und "die Sprache, die ihren Hintergrund in der Welt hat, zu einer Welt in sich selbst (werde), zu einer ständig mehr entfalteten Welt", wie sie dies im poetologischen Essay Die Seide, der Raum, die Sprache, das Herz nennt.

Sprache bilde Wirklichkeit nicht ab, Wort schildere nicht mehr wahrgenommene Phänomene - sie verschmölze idealiter mit dieser und mit jenen zu einem Reden von einem Ich zu einem nicht mehr fremden Du, zur mythischen Harmonie aus Mensch, Sprache, Kosmos. "Ich spreche von den zwischenformen der mitteilung/ den zwischenstadien des gedankens/ spreche von den zwischenkulturen des gefühls/ Warum sollte das nicht die einzige Welt sein", heißt es in det/das.

Einfälle/ in einer welt von ausfällen,/ eingebungen/ in einer welt von aufschüben." Den mehrteiligen, verweisgesättigten Zyklus det/das schloss sie, nach einiger Unterbrechung, 1969 in Rom ab. In den folgenden Jahren widmet sie sich Hörspielen und Prosa - ihr erster Roman Azurno war 1967 erschienen. 1979 erscheint Brief im April (Brev i april), das sie in Paris geschrieben hatte. Hier perfektioniert sie das Unterlegen eines Systems und greift auf die Zahlenreihe des Mathematikers Fibonacci (1170-1250) zurück, bei der sich ein Zahlenpaar fortlaufend addiert und dergestalt die nächste Zahl ergibt (1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 usw.).

Ordnung und Zufall

So schaltet sie den Zufall aus, indem sie ihn bändigt und kanalisiert. Christensen über den Zufall als Ordnungsprinzip: "Zwar ist alles Zufall und Veränderung, aber nur, weil es auch eine Ordnung gibt. Nur weil es zugleich, unter dem Wechselhaften und Unvorhersagbaren, Ordnung und Schönheit gibt, die jederzeit hervorbrechen können."

Das war es. So anders jetzt, da es begonnen hat. So verändert." Kanalisiertem Zufall verdankte sich auch ihr nächster Gedichtband Alphabet zwei Jahre später. So deutlich wie selten dringt die Außenwelt, Wettrüsten und Apokalypse, ein in ihr Schreiben. Sie sieht keinen Sinn mehr in der Dichtung. Ergebnis: eine Schreibblockade.

Um diese zu lösen, beginnt sie, auf großen Papierbögen unabhängig voneinander Buchstaben in alphabetischer Reihenfolge aufzuschreiben. Danach wählt sie einzelne Worte wie Aprikose, Gras, Taube oder Melone aus. Aus Buchstaben werden Worte, aus Worten werden Wortsammlungen, endlich erwachsen aus dieser "besonders schlampigen Form von Wörterbuch" (Christensen) Gedichte.

Schreibkrisen hat es bei der Dänin immer gegeben, auch lange Pausen. Eine rasante Verfertigerin von Gedichten ist sie nie gewesen. Lakonisch meint sie dazu: "Ich bin eine gewöhnliche Sterbliche, bereite Mahlzeiten zu und hacke Holz. Es passiert nur selten, dass ich die Orientierung verliere. Dass ich vergesse, was ich wusste und es deshalb erneut formulieren muss." Ihren Antrieb zum Schreiben fasst Inger Christensen so zusammen: "Das ist vielleicht das Optimale: demütig nach etwas zu suchen, von dem man ahnt, dass es richtig sein muss. Ganz tief in etwas zu leben. Vielleicht ist das Schreiben von Dichtung von diesem Zustand nicht so weit entfernt.

In der Sprache forschen, auf die gleiche Weise, wie man in ein Mikroskop schaut, nach etwas suchen, das man nur spürt . . . das ist es, was mich dazu bringt, Gedichte zu schreiben." (DER STANDARD, Print, 18./19.6.2005)