Sicher gibt es für alles eine Erklärung. So wie André Rettberg - einstiger Börsendarling und "Manager des Jahres", späterer Pleitier - eine überzeugende Erklärung dafür haben wird, wie er mit Libro ein paar Hundert Millionen Euro in den Sand setzen konnte und es dann vorzog, der Justiz nicht zur Verfügung zu stehen, um diese Erklärung abzuliefern. Oder welche wohl meinenden Geister 150.000 Euro Kaution hinterlegen für einen Mann, der angeblich völlig mittellos dasteht.

Oder eine Erklärung für den Umstand, dass seit fast eineinhalb Jahren ein internationaler Haftbefehl gegen Rettberg bestand, aber der Exekutive offenbar jede Spur fehlte. Auf diese Erklärung sind wir besonders gespannt, denn da gibt es ein paar Rätsel - etwa dass der Mann gebürtiger Holländer ist und schlussendlich in Amsterdam für ein Illustrierteninterview wieder auftaucht und ihm zeitgleich freies Geleit zugesichert wird. Da denkst du dir: Kann doch nicht so schwierig sein, einen Holländer in Holland zu finden, wenn das selbst Journalisten gelingt.

Die Causa Libro-Rettberg werden die Gerichte zu klären haben, und das wird, wenn frühere Verfahren ein Maßstab sind, viele Jahre in Anspruch nehmen. Denn bei Wirtschaftsfällen mahlen die Mühlen der Justiz langsam - besonders langsam, wenn es obendrein nicht um die kleinen Pleiten samt allfälligen Betrügereien von Wirtschaftstreibenden geht, denen ihre Geschäfte aus dem Ruder gelaufen sind, sondern um die vormaligen Stars und Promis. Nebst Erhellung in Sachen Libro warten wir übrigens seit einigen Jahren auch auf Erhellung in Sachen YLine, auch dereinst ein strahlender Stern am New-Economy-Firmament.

Die Causa "Verhalten der Strafverfolgungsbehörden" in diesem und anderen prominenten Fällen ist hingegen eine andere Frage, die wohl nur mit parlamentarischen Anfragen oder allenfalls auch Untersuchungen geklärt werden kann. Die Hauptungereimtheit: Da führt eine angeblich spurlos verschwundene, dringend gesuchte Person einerseits per Interviews Verhandlungen mit den Behörden ("Hebt den Haftbefehl auf, dann komme ich sofort zurück"), wehrt sich gegen Anschuldigungen durch Stellungnahmen und informiert uns auch sonst laufend über ihre Befindlichkeit ("Mir geht es schlecht, ich fühle mich völlig zu Unrecht von der Justiz verfolgt") - nur Polizei und Justiz wissen nicht, wie sie den Mann finden.

Das erinnert, nebenbei, an frühere Wirtschaftsflüchtlinge wie den Ex-FP-Mandatar und Finanzberater Peter Rosenstingl, der zuerst von einem Salzburger Journalisten in Fortaleza gesichtet wurde, oder den Ex-Bankier Wolfgang Rieger, der sich mit Millionen an die Côte d'Azur absetzte und dort von einem Journalisten aufgestöbert wurde.

Diese Erfolglosigkeit erscheint besonders aufklärungsbedürftig in Anbetracht des im Fall Rettberg bekannt gewordenen Richtungsstreits in der Staatsanwaltschaft. Da kam man in Wien zur Ansicht, dass die Vorwürfe zu dünn für eine Anklage sind, während man in Wiener Neustadt die harte Nummer spielte. Und letztlich wurde Rettberg, weil ja unauffindbar, das seltene Mittel des "freien Geleits" eingeräumt, mit dem weniger prominente Beschuldigte kaum rechnen können.

All diese Umstände bedürfen der Erhellung, denn sonst bestärkt sich nur der ohnedies weit verbreitete Eindruck, dass Exekutive und Justiz bei kleinen Fischen schnell agieren, aber der Eifer in prominenten Fällen enden wollend ist. Wahrscheinlich besteht dieser Vorwurf zu Unrecht, denn gut bestallte Pleitiers haben auch nach dem Crash weiterhin ein Netz von Möglichkeiten, sich zu entziehen.

Wenn das die Erklärung für die Ungereimtheiten in Sachen Rettberg ist, dann brauchen Justiz und Exekutive bessere Ausstattung, um komplexe Wirtschaftsfälle lösen zu können. Oder es gibt doch den "Promi-Bonus", wie das die lange zurück liegende Causa Proksch suggeriert. Dann wäre es dringend an der Zeit für politische Konsequenzen. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17.6.2005)