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Lockenhaus, Burgenland, 1945: russische Soldaten demontieren das Türschild des örtlichen NSDAP-Lokals.

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Ausschnitt eines Gerichtsakts.

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Sabine Loitfellner studierte Geschichte und Politikwissenschaft und arbeitete an unterschiedlichen Projekten zur Vergangenheitspolitik mit. Derzeit ist sie bei der Zentralen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz (Projekt: Justiz und NS-Gewaltverbrechen in Österreich. Regionale Besonderheiten und Vergleich mit Deutschland) sowie der Israelitischen Kultusgemeinde Wien/Anlaufstelle für jüdische NS-Verfolgte in und aus Österreich, Bereich Restitution, tätig.

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derStandard.at: Wie ging das Nachkriegsösterreich mit NSDAP-Mitgliedern, die Verbrechen begangen hatten, um?

Sabine Loitfellner: Die Wiederherstellung der politischen Ordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erforderte unter anderem die Abrechnung mit dem Nationalsozialismus. Neben der bürokratischen Entnazifizierung zur Registrierung und "Durchkämmung" der gesamten Bevölkerung bildete die justizielle Ahndung von NS-Verbrechen eine Maßnahme der Bewältigung des NS-Regimes.

In Österreich wurden zu diesem Zweck eigens Volksgerichte (nicht zu verwechseln mit den NS-Volksgerichtshöfen!) eingerichtet, die auf Basis von Sondergesetzen, die dem spezifischen Charakter der NS-Verbrechen Rechnung trugen, über NS-VerbrecherInnen urteilten, allerdings unabhängig davon, ob die TäterInnen NSDAP-Mitglieder waren oder nicht. Diese Gesetze waren zum einen das am 26. Juni 1945 in Kraft gesetzte Kriegsverbrechergesetz (KVG) und zum anderen das am 8. Mai 1945 erlassene Gesetz zum Verbot der NSDAP ("Verbotsgesetz", kurz VG).

Zweifelsohne wurden die meisten Verfahren wegen der illegalen Zugehörigkeit zur NSDAP und anderen NS-Organisationen vor 1938 als Hochverrat am österreichischen Volk geahndet. Verfolgt wurden aber auch Verbrechen wie Kriegsverbrechen, Morddelikte, Misshandlungen (unter anderem mit Todesfolge), "Arisierungen", Denunziation (unter anderem mit Todesfolge), Deportation, Verletzung der Menschenwürde.

derStandard.at: Bundesrat Kampl beklagt die "Brutalität der Nazi-Verfolgung". Sein Vater sei "in der Nacht abgeholt worden", wobei er die Gründe für die Verhaftung nicht erwähnt. Wer war für die Ermittlungen gegen Nazi-Verbrecher zuständig – die österreichische Exekutive oder Angehörige der Besatzungsmächte? Wie intensiv wurden solche Ermittlungen geführt, hatten Opfer der Nazis eine Chance auf Gerechtigkeit?

Sabine Loitfellner: In der sowjetischen Besatzungszone wurden von Beginn an die österreichischen Behörden mit der Ausforschung von NS-Verbrechern betraut. In den anderen Bestatzungszonen wurden bis ca. Frühjahr 1946 Verdächtige daneben auch von den Alliierten verhaftet und interniert. Falls diese Personen auch von der österreichischen Polizei gesucht wurden, übergaben die Alliierten diese in der Regel an die österreichischen Behörden.

Die Alliierten behielten sich die Verfolgung von besonders grauenhaften Verbrechen vor oder von Verbrechen, die an Angehörigen ihrer eigenen Armeen begangen wurden. Im Falle von Herrn Kampl gibt es einen Gerichtsakt des Volksgerichtes Klagenfurt; der historische und nun politisch aktuell gemachte Fall Kampl ließe sich wohl durch eine Einsichtnahme in diesen Akt klären.

Insgesamt kann gesagt werden, dass wegen einer Lappalie niemand vor ein Volksgericht gestellt wurde. Die Nachkriegsjustiz hat vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit unglaubliches geleistet und massiv zur Aufklärung von Verbrechen beigetragen. Dies ist aber in Vergessenheit geraten – meine Kollegin Claudia Kuretsidis-Haider verwendet hierfür den Begriff der "2. Verdrängung": Um die NS-Verbrechen - begangen von ÖsterreicherInnen - zu verdrängen, muss konsequenterweise auch ihre Ahndung verdrängt werden.

Die teilweise unglaublichen Fehlurteile der 60-er und 70-er Jahre durch Geschworenengerichte (Stichwort: Murer-Freispruch, Freispruch der Erbauer der Auschwitzer Krematorien Dejaco und Ertl) sind dafür verantwortlich, dass Österreich den Ruf bekam, NS-Verbrechen nicht ausreichend verfolgt zu haben.

derStandard.at: Wie viele Urteile wurden in den ersten Jahren nach Kriegsende gegen Nazi-Verbrecher ausgesprochen? Welche Strafen wurden verhängt, mussten diese üblicherweise abgesessen werden?

Sabine Loitfellner: Zwischen 1945 und 1955 wurden in 136.829 Fällen gerichtliche Voruntersuchungen wegen des Verdachts nationalsozialistischer Verbrechen oder "Illegalität" (Mitgliedschaft bei der NSDAP zur Zeit ihres Verbots 1933-1938) eingeleitet. 23.477 Urteile wurden gefällt, davon 13.607 Schuldsprüche. Die Anzahl der wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen verurteilten Personen liegt vermutlich bei rund 700 Personen.

Insgesamt wurden 43 Angeklagte zum Tode, 29 Angeklagte zu lebenslänglichem Kerker und 269 Angeklagte zu Kerkerstrafen zwischen zehn und zwanzig Jahren verurteilt; 30 Todesurteile wurden vollstreckt, 2 Verurteilte begingen vor der Vollstreckung Selbstmord.

Bereits ab 1947 ging nicht nur die Tendenz dahin, mildere Urteile zu sprechen, es folgten auch zahlreiche Amnestien (beginnend mit der Jugendamnestie und der so genannten "Minderbelastetenamnestie"). Dies bedeutete auch vorzeitige Haftentlassungen für Verurteilte, wobei sich u. a. hochrangige Politiker (wie Innenminister Oskar Helmer) für die vorzeitige Amnestie von verurteilten NS-Verbrechern eingesetzt haben (Seite 2 des oben verlinkten PDFs zeigt einen Brief Helmers an Justizminister Gerö).

1955 – nach dem Abschluss des Staatsvertrages – wurden die Volksgerichte aufgelöst, 1957 wurde auch das KVG und zahlreiche Vorschriften des Verbotsgesetzes aufgehoben und eine generelle Amnestie erlassen. Die Ahndung von NS-Verbrechen oblag nun ordentlichen Gerichten. NS-Gewaltverbrechen sind seither nach dem allgemeinen Strafrecht zu beurteilen. Vor allem Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Menschenwürde wurden nach der NS-Amnestie von 1957 nicht weiter verfolgt. Außerdem zeigten weder die Öffentlichkeit noch die politische Führung besonderes Interesse daran, NS-Verbrechen weiterhin zu verfolgen.

derStandard.at: Laut Angaben des Wiesenthal Centers sind zahlreiche Österreicher für Verbrechen der Nazi-"Polizeibattailone" verantwortlich. In Deutschland sind in diesem Zusammenhang insgesamt 15 Urteile gefällt worden, in Österreich kein einziges, obwohl es auch Einheiten gab, die ausschließlich aus Österreichern bestanden. Hat die "Operation Last Chance" in Österreich Aussichten auf Erfolg?

Sabine Loitfellner: Um es salopp zu formulieren: Das Thema hat sich wohl mittlerweile biologisch gelöst.

Wenngleich es einige wenige Verdächtige in Österreich geben mag, sind diese in einem Alter, in dem sie wohl nicht mehr mit einem Verfahren zu rechnen haben. Ich verweise auf den Fall Heinrich Gross, dessen Verfahren wegen der Ermordung von Kindern im Zuge der Euthanasie-Aktion am Steinhof, so wie es ausschaut, eingestellt werden wird.