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Vorladung beim Chef: Premierminister Jean-Pierre Raffarin tritt am Montagvormittag den Gang in den Elyseepalast zu Jacques Chirac an.

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Nach dem "Non": Chirac tauscht den Premier aus und muss von linker Seite selbst Rücktrittsaufforderungen einstecken

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Nach dem Nein der Franzosen zur EU-Verfassung wird heute in Paris eine Regierungsumbildung erwartet. Die Ablöse von Premierminister Raffarin dürfte beschlossene Sache sein. Favorit für die Nachfolge ist Innenminister De Villepin. Präsident Chirac will sich am Abend zum dritten Mal in einer Woche mit einer Fernsehansprache an die Bevölkerung wenden. Von linker Seite erklingen aber auch Rufe nach Neuwahlen - und nach dem Rücktritt des Staatschefs.

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Die Franzosen gingen am gestrigen Montag mit einem leichten Kater zur Arbeit: Sie merken erst nach und nach, welches Kuckucksei sie der EU mit ihrem "Non" ins Nest gelegt haben. Und sich selbst: "Die Franzosen wissen aus eigener Erfahrung, dass es ihrem Land schlecht geht. Leider geht es ihnen heute Morgen noch schlechter", kommentierte die Zeitung Libération am Montag. Das linksliberale und proeuropäische Blatt nannte das Abstimmungsresultat von 55 Prozent Nein-Stimmen ein "Meisterwerk des Masochismus". Jetzt werde Frankreich in Brüssel an Gewicht verlieren, zumal das deutsch-französische Gespann aus dem Tritt falle.

Die Wirtschaftszeitung La Tribune bedauerte dies umso mehr, als nun Großbritannien bald den EU-Vorsitz übernehmen und die Früchte des französischen Non einheimsen werde. Nicht alle französischen Medien gehen mit ihren Landsleuten so hart ins Gericht. Le Parisien drückte Verständnis aus für ein Nein, das sich vor allem aus innenpolitischen Gründen nährt.

Das Boulevard-Blatt France-Soir macht den Staatspräsidenten verantwortlich und fragt auf der Titelseite: "Muss Jacques Chirac abtreten?" Der 72-jährige Staatschef denkt aber nicht daran. Chirac hat sich wie bei der verpatzten Parlamentsauflösung von 1997 selber ein Bein gestellt und die Franzosen gegen sich eingenommen. Doch von seinem Charakter her gibt er nie auf; er zeigt seine Stärke meinst dann, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht. Dafür muss jetzt Premierminister Jean-Pierre Raffarin über die Klinge springen. Nach einer Unterredung mit Chirac meinte der Regierungschef gestern mit einem Anflug von Fatalismus: "Ich gehe jetzt in Paris spazieren." Im Elysée traf dafür François Bayrou ein, Chef der zentrumsliberalen UDF und Juniorpartner von Chiracs bürgerlicher Regierungspartei UMP. Die große Frage ist, wer Raffarins Nachfolger wird.

Zuoberst in Chiracs Gunst steht sein alter Vertrauter, Innenminister Dominique de Villepin. Eventuell könnte der Präsident aber auch UMP-Chef Nicolas Sarkozy als "Troubleshooter" berufen. Dies nicht aus plötzlicher Nächstenliebe zu seinem schärfsten internen Widersacher, sondern eher, um ihn vor den Präsidentschaftswahlen von 2007 im Amt zu verschleißen. Chirac weiß auch, dass die "soziale Malaise" meist der Regierung angekreidet wird, während der Staatspräsident selbst über der Sache steht. Als Joker neben de Villepin und Sarkozy gilt Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie.

Trotz Chiracs taktischer Talente ist es fraglich, ob der Rücktritt des Regierungschefs "la grogne sociale" (das soziale Grollen) zum Verstummen bringen kann. Der unpopuläre Raffarin war seit Langem überfällig, und der Präsident wartete nur darauf, ihn bei passender Gelegenheit als Bauernopfer zu benützen.

Die Linke will sich mit dem Abgang Raffarins jedenfalls nicht zufrieden geben. Der Sozialist Marc Ayrault forderte Chirac noch am Sonntagabend zum Rücktritt auf, und sein Parteifreund Jack Lang verlangt Neuwahlen. Ein Sprecher der scheidenden Regierung wies dies in schroffem Ton zurück: "Ich denke nicht, dass dies heute zur Debatte steht." Nach den kalamitösen Neuwahlen von 1997 scheinen die Chirac-Anhänger allein schon die Benützung des Wörtchens "dissolution" - gemeint ist die Parlamentsauflösung - als persönlichen Affront aufzufassen. (Stefan Brändle/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 31.5.2005/APA)