Noch bevor die ersten Hochrechnungen bekannt wurden, sprachen in Brüssel die Gesichter des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso und des amtierenden Ratspräsidenten Jean-Claude Juncker Bände. Die von Juncker für den Fall eines Nein der Franzosen angekündigte "Katastrophe" für die Europäische Union war eingetreten.

Auch wenn der Verfassungsbeschluss eine Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses erfordert, droht der EU nun eine mehrfache Krise:

Institutionen:

Ohne Verfassung wäre die Reform der Institutionen blockiert, weil der Text dazu in allen 25 EU-Staaten ratifiziert werden muss. Damit könnten etwa der auf mehr Effizienz zielende Abstimmungsmodus und die Stärkung des Europaparlaments einstweilen nicht wirksam werden. Befürchtet wird eine Lähmung der EU.

Finanzen:

Die ohnehin schwierige Entscheidung über die EU-Budgets der Jahre 2007 bis 2013 wird weiter erschwert. Kommt es beim Juni-Gipfel nur zwei Wochen nach dem Referendum nicht zu einer Einigung, könnten sich Struktur- und Forschungsprogramme verzögern. Die EU-Politikplanung verlöre ein Jahr.

Erweiterung:

Trotz gegenteiliger Beteuerungen könnte auch der Start der Beitrittsgespräche der Türkei im Oktober in Frage gestellt werden, gegen die es in Frankreich Vorbehalte gibt. An Auswegen aus der Krise werden in Brüssel und in den Mitgliedsstaaten mehrere Varianten erörtert:

Wiederholung des Referendums:

Falls eine Mehrheit der anderen Staaten die Verfassung ratifiziert und Frankreich eines der letzten Hindernisse wäre, könnte das Referendum nach einiger Zeit wiederholt werden. Vorher müsste ein Anreiz für die französischen Wähler geschaffen werden. Ausnahmeregeln von der Verfassung gelten als ausgeschlossen, da ihnen alle anderen 24 Staaten zustimmen müssten. Denkbar wären Protokollerklärungen zu für Frankreich besonders wichtigen Fragen oder ein Verzicht auf strittige EU-Vorhaben. Bereits vor dem Referendum hat die EU auf eine umfassende Liberalisierung von Dienstleistungen verzichtet.

Vorziehen von Verfassungsteilen:

Solange die Verfassung nicht in Kraft tritt, gilt weiter der EU-Vertrag von Nizza mit seinen sperrigen Regelungen. Ob man bei einem Scheitern der Verfassung in Frankreich einzelne ihrer Regelungen vorziehen und durch einen Beschluss der EU-Regierungschefs in Kraft setzen kann, ist umstritten. Auch ist fraglich, ob es dafür die nötige Einstimmigkeit gäbe. EU-Experten verweisen darauf, dass die Verfassung ein kompliziert ausgehandeltes Paket ist, bei dem jedes Land Zugeständnisse gemacht hat. Ein teilweises Inkraftsetzen könnte dieses Gleichgewicht verändern.

Kerngruppen:

In den Verhandlungen über die Verfassung war für den Fall eines Scheiterns immer wieder ein Auseinanderfallen der EU in ein Kerneuropa als Schreckensszenario dargestellt worden. Doch ein Kern ohne Frankreich gilt bei EU-Vertretern als nicht denkbar. Um auch ohne die Verfassung eine engere Zusammenarbeit zu erreichen, wäre auch eine stärkere Zusammenarbeit der nationalen Regierungen ohne volle Einbindung der EU-Gremien denkbar. Euroskeptischen Ländern wie Großbritannien und Dänemark könnte dies entgegenkommen. Doch dieser Weg ist wegen der erforderlichen Einstimmigkeit langwierig. Er würde auch dem EU-Parlament neue demokratische Mitsprachemöglichkeiten versagen, die ihm erst die Verfassung geben würden. (red/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 30.5.2005)