Auch die kleinen Dinge wollen im Großen und Ganzen erinnert und, wenn möglich, auch ein bisschen gefeiert werden. Daher wollen wir uns kurz an den Händen fassen, einen Kreis bilden und des Verfassungsbogens gedenken, den Andreas Khol vor zehn Jahren in die Welt gesetzt hat. Wie die Zeit vergeht (banal), und was sie nicht alles aus uns macht (noch banaler): Aus dem seinerzeitigen Klubobmann der ÖVP, der sich 1995 gerne als "Kutscher der Koalition", die damals noch groß war, bezeichnete, wurde beispielsweise ein richtiger Nationalratspräsident.

Das war vor zehn Jahren so noch nicht absehbar, als Khol meinte, der "Führer" der seinerzeitigen "F-Bewegung" - vormals FPÖ, nachmals BZÖ - stünde außerhalb des Verfassungsbogens. Noch weniger abzusehen war auch, dass die ÖVP sich kaum fünf Jahre später in inniglicher Umarmung mit ebendieser F-Bewegung auf den langen "Marsch durch die Wüste Gobi", um bei den Worten des Koalitionskutschers zu bleiben, begeben würde.

Daher darf hier kurz ein historisches Tondokument eingespielt werden, es spricht Andreas Khol am 14. Mai 1995: "Die F-Bewegung steht außerhalb des Verfassungsbogens. (. . .) Der Führer der F-Bewegung hat wörtlich eine Kulturrevolution verlangt, sich also als Revolutionär im Sinn der seinerzeitigen Kulturrevolution (der Begriff Kulturrevolution kommt von China) bezeichnet. Auf dieser Linie liegt die systematische Beschimpfung der Republik, unseres Parlaments, unserer Parteien: So wird ein außerparlamentarischer Zangenangriff auf die Zweite Republik geführt." Khols Furcht vor einer "Dritten Republik" unter der Führung Jörg Haiders war damals förmlich mit Händen fassbar: Mit seinen "präfaschistischen Verfassungsvorstellungen" habe sich Haider "außerhalb des Verfassungsbogens" gestellt, doppelte Khol in jeder Hinsicht zwei Monate später nach, und die Beteuerungen des Wahlkärntners, den rechten Rand seiner Bewegung auslichten zu wollen, quittierte Khol mit der Bemerkung, er höre wohl die Mühlen mahlen, allein er sehe noch kein Mehl.

Haiders Mühlen mahlten langsam, doch sie mahlten trefflich klein, und nach kaum einem Jahr sah Khol das Mehl. Einige positive Äußerungen Haiders zur EU hatten Khol die Augen geöffnet, obwohl er noch immer nicht weit in die Zukunft blicken wollte: Zurück im Verfassungsbogen sah er die Freiheitlichen 1996, aber lange noch nicht "regierungsfähig". Das kam erst, als die Zeit dafür reif war und sich mit ihr Khols Wahrheit, bekanntlich eine ihrer Töchter, gewandelt hatte. In seinem Bekenntnisbuch Die Wende ist geglückt fasste Khol 2001 den Gang beider, also der Zeit und ihrer Tochter, und die endgültige Heimkehr der Blauen in den Verfassungsbogen so zusammen: "Zuerst wurde der (. . .) Begriff der Dritten Republik fallen gelassen. Es folgte die Absage an die Deutschtümelei durch Jörg Haider persönlich. Dann erfolgte die Stilisierung der FPÖ (. . .) als betont österreich-patriotische Partei."

Mit der Unterzeichnung der Regierungspräambel - wer erinnert sich noch daran - war für Khol die Rückkehr in den malträtierten Bogen endgültig vollzogen. Mit sich selbst hatte Khol schon ein Jahr zuvor seinen Frieden geschlossen, als er sich energisch davon distanzierte, Haider 1995 im Daily Telegraph einen "fascist thinker seeking a political revolution" genannt zu haben. Und der Verfassungsbogen? Ach der, der hielt das alles seufzend aus. (ALBUM, DER STANDARD, Printausgabe, 28./29.5.2005)