Das europäische Parlament ist vielen zu schwach. Aber Mitglieder versichern, dass sie als Parlamentarier in keiner Volksvertretung je so stark gewesen seien wie im Europaparlament. Es ist im Laufe der Zeit auch formell stärker geworden, und die EU-Verfassung wertet es weiter auf. Gesetzgebung, Haushalt, Wahl des Präsidenten der Kommission, Kontrolle. Europawahlen werden wichtiger. Die Massenmedien werden sich danach richten. Die Information über Debatten des Parlaments und des gesetzgebenden Ministerrates wird "öffentlicher" werden.
Das europaweite obligatorische Verfassungsreferendum aus gegebenem Anlass wurde leider nicht durchgesetzt. Volksabstimmungen sieht auch die neue Verfassung nicht vor, ebenso nicht Volksbefragungen, wohl aber Volksbegehren. Damit beginnt die direkte Demokratie in der EU mit der "Initiative". Sie kann weitere Volksrechte "begehren". Eine Million Menschen kann die Kommission zu Aktionen veranlassen. Die europäische Unterhaltungsdemokratie zeigt, was alles möglich ist.
Die Initiative für eine europaweite Abstimmung schlug fehl. Aber in zehn Mitgliedstaaten finden Volksabstimmungen statt. (Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Irland, Luxemburg, Niederlande, Polen, Portugal, Spanien, Tschechien). Spanien sagte ja, alles wartet auf Frankreich (29. Mai 2005) und die Niederlande (1. Juni 2005). In Österreich gab es keine Volksabstimmung. Die Bundesverfassung sieht keine Volksabstimmung über Staatsverträge vor. Man könnte aber einen Umweg über einen Gesetzesbeschluss machen; denn nur über einen solchen wäre die Volksabstimmung möglich. Da das Bundesverfassungsgesetz kein Staatsvertragsreferendum kennt, soll hier wieder einmal ein Plädoyer dafür vorgebracht werden. Ich übernehme Argumente des Schweizer Historikers Georg Kreis:
1. Volksabstimmungen führen zu einer besseren Legitimität. 2. Sie zwingen die politische Elite, sich an das Volk zu wenden. 3. Sie drängen die Bürger, sich mit inter- und supranationalen Angelegenheiten, hier mit "Europa", zu befassen. 4. Sie fördern die Kenntnisse. 5. Sie fördern das Interesse . . . Die Liste ließe sich ergänzen. Meines Erachtens fördern sie à la longue die Deprovinzialisierung. Laut einer Langzeitstudie wächst das Interesse an der Außenpolitik.
Der Satz "all politics is local" gilt auch in der Europäischen Union. Die politischen Akteure, welche sie führen, wissen das sehr genau. Sie verdanken ihre Führungspositionen nationalstaatlicher Legitimation. Die "Herren der Verträge" sind es auch, weil sie "Hausherren" sind. Das sukzessiv entwickelte und komplizierte Entscheidungssystem der Union ist in 50 Jahren - und nicht von heute auf morgen - entstanden. Das europäische Projekt ist ein Prozess. Dabei ist sowohl eine Parlamentarisierung als auch eine Präsidialisierung festzustellen (Kommissions-, Parlaments-, Rats-Präsident, kein Unionspräsident). Aber man soll die EU nicht an überkommenen Modellen messen. Jedenfalls ist die Europäische Union durch umfassende Gewaltenteilung geprägt. Dafür sorgen schon die vielen Mitglieder, die wieder ihrerseits je Gewaltenteilungen aufweisen. Die entstandene Mehr-Ebenen-Demokratie ist ein besonderer Anwendungsfall.
An der Spitze der EU ist die Gewaltenteilung geradezu durch originelle Inter- und Intraorgankontrollen auf die Spitze getrieben. Sie wirken in der Union mehr als jene in den Mitgliedstaaten. Deshalb ist es erstaunlich, wie weit das mehr an Montesquieu als an Rousseau orientierte Projekt in seinem Prozess gekommen ist. Denn es funktioniert nur bei Konsens aller politischen Kräfte. Die Großen und die Kleinen müssen sich einigen, wenn es weiter und vorwärts gehen soll. Die EU-Devise "in Vielfalt geeint" kann durch das altösterreichische "viribus unitis" ergänzt werden. Die vorwärts drängende Energie der Demokratie ist, wenn überhaupt, nur in den Mitgliedstaaten zu spüren, und deshalb kommt den Abstimmungen so eine große Bedeutung zu.