Am Donnerstag ist die Oberösterreicherin Gerlinde Kaltenbrunner (34) im Basislager aufgebrochen. In wenigen Tagen will sie gemeinsam mit zwei Gefährten auf dem Gipfel des Mt. Everest stehen. Um Rekorde geht's ihr nicht, und doch könnte sie als erste Frau alle 14 Achttausender schaffen.
Foto: Kaltenbrunner
"Haben wir einen Feind bezwungen? Keinen außer uns selbst. Haben wir Erfolg errungen? Dieses Wort hat hier keine Bedeutung. Haben wir ein Königreich gewonnen? Nein - und ja. Wir haben äußerste Befriedigung erlangt." George Mallory, Alpinpionier


Mt. Everest/Wien - Fünfzehn Routen führen auf den Mount Everest, die Muttergöttin der Welt. Um als HöhenbergsteigerIn den Gipfel im Tourenbuch zu verzeichnen, genügen die hohen Ansprüche der Normalroute. Unkonventionelle, selten begangene Routen schüren die Lust nach Abenteuer und Herausforderung. Gerlinde Kaltenbrunner aus Spital am Pyhrn, derzeit weltweit erfolgreichste Höhenbergsteigerin, will noch im Mai den höchsten Himalajagipfel als ihren neunten Achttausender über das so genannte Super-Couloir in der tibetischen Nordwand besteigen.

Die Wahl ihres pfeilgeraden Aufstiegs über die 3000 Meter hohe Wand auf den höchsten Punkt der Erde spiegelt Kaltenbrunners Einstellung zum Höhenbergsteigen. "Im Riesenrummel der Everest-Besteigungen unterwegs zu sein wäre für mich nicht das Erlebnis, das ich suche. Damit will ich mich nicht identifizieren." Die Nordwand ist eine Wand ohne Umwege. Keine langen, flachen Querungen. Der Weg führt schnurgerade ans Ziel.

Zu Kaltenbrunners Team gehören Lebens- und Bergpartner Ralf Dujmovits, Leiter von Amical Alpin in Deutschland, und der japanische Bergsteiger Hirotaka Takeuchi. Die Besteigung erfolgt wie immer im Alpinstil - ohne zusätzlichen künstlichen Sauerstoff, ohne Träger, ohne Fixseile. Als Gipfeltag ist der 30. Mai vorgesehen, gestern brach das Trio im Basislager auf tibetischer Seite auf. Durchgängige Eispassagen mit 70 bis 80 Grad warten noch vor dem Hornbein-Couloir. Unter Umständen vereiste Felspassagen in der Todeszone oberhalb von 7500 Metern im 4. Schwierigkeitsgrad frei zu klettern prägen die Gipfeletappe.

"Beim Einstieg ins Hornbein-Couloir müssen wir hundertprozentig sicher sein, dass wir es schaffen können, bis zum Gipfel durchzusteigen", schildert Kaltenbrunner die bevorstehende Etappe. Ab einer Höhe von 8000 Metern kann auf dieser Route weder ausgewichen noch umgekehrt werden. "Das kann eine spannende Entscheidung werden." Alles eine Sache der positiven Einstellung. "Du musst daran glauben, dass es klappt. Und vor allem musst du an dich glauben. Das ist sicher mein Erfolgsrezept", erklärt die Oberösterreicherin die Strategie hinter ihren Gipfelsiegen, deren Vorbereitung jeglichen Mentaltrainings entbehrt.

In der Planungsphase einer Expedition liegt Kaltenbrunners Fokus ganz und ausschließlich auf Durchführbarkeit und Gelingen der Unternehmung. Positives Denken sowie eine enorme Begeisterungsfähigkeit sind der Profibergsteigerin quasi in die Wiege gelegt. Mit möglichem Scheitern setzt sie sich auseinander, wenn es die Situation erfordert. Vorher nicht.

Im Vormonsun vergangenen Jahres versuchte sich das Dreierteam beispielsweise erstmalig an der Shisha-Pangma-Südwand. Die der Jahreszeit entsprechende steigende Wärme aperte Steinmaterial aus, das in die Wand fiel und Ralf Dujmovits in einer Höhe von 6850 Metern am Bein verletzte. Kaltenbrunner und Takeuchi entschieden sich, gemeinsam mit Dujmovits auf den Gipfel zu verzichten und kehrten um. Heuer gaben sie der Wand zum Auftakt der Saison eine zweite Chance. Am 7. Mai 2005 um elf Uhr nepalesischer Zeit stand Gerlinde Kaltenbrunner gemeinsam mit ihren Partnern als erste Frau, die den Shisha Pangma (8013 Höhenmeter) über die steile Südwand erreichte, auf dem Gipfel. Der Abstieg erfolgte über die Nordflanke.

Konkurrenzdenken oder Ellenbogentechnik im Duell um den Titel für die erste Frau, die alle 14 Achttausender der Erde bezwungen hat, kennt Kaltenbrunner nicht. Bergsteigen ist für sie die Erfüllung einer Vision, das Leben, zu dem sie sich berufen fühlt. Listen, Rekorde oder Titel haben darin keinen Platz. Sowohl deutschsprachige als auch spanische Medien sagen der spanischen Extrembergsteigerin Edurne Pasaban und Gerlinde Kaltenbrunner eine erbitterte Auseinandersetzung um den Titel der ersten Frau auf allen Himalaja-Riesen nach. Doch in der Welt der Profibergsteigerinnen sieht es de facto ganz anders aus. Die beiden haben bereits eine gemeinsame Expedition zu einem Achttausender in Planung.

Mancher Höhenbergsteiger kommt schwer mit der Tatsache zurecht, dass eine Frau am Berg stärkere Leistungen erbringt. "Kondition kann sich jeder antrainieren", sagt Kaltenbrunner, die Frauen im Vorteil sieht. "Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir die Höhe besser vertragen. Mittlerweile weiß ich auch, dass ich mich sehr schnell akklimatisiere. Mit Kopfweh habe ich überhaupt keine Probleme. Das ist Gold wert."

Das Gefühl der Befriedigung im Basislager nach einem Gipfelerlebnis grenzt an Vollkommenheit. Kaltenbrunner sucht bei ihrer Gipfelwahl nie nach Steigerungen zum Vorgipfel. "Doch eines ist in mir: Ich will wieder irgendwo hinauf." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.5. 2005)

*Nathalie Steinlechner ist freie Journalistin in Bad Ischl