Je näher das EU-Referendum kommenden Sonntag in Frankreich rückt, desto bedrohlicher werden die skizzierten Szenarien. Für den EU-Außenpolitikrepräsentanten Javier Solana steht nicht weniger als die Handlungsfähigkeit und die Zukunft der Europäischen Union auf dem Spiel. Dass es dabei auch um seinen eigenen Job geht (nur bei einer Umsetzung der Verfassung wird Solana EU-Außenminister), verschweigt er jedoch. Bis Sonntag werden noch mehr Untergangsszenarien beschworen, und gleichzeitig wird noch stärker an den Nationalstolz der Franzosen appelliert werden, um sie zu einem "Oui" zu bewegen.

Sollten die Franzosen entgegen jüngsten Umfragen doch mehrheitlich für die EU-Verfassung votieren, werden die Niederländer, die am 1. Juni abstimmen, den gleichen Mix aus Werbung und Drohkulissen erleben. Auch hier suggerieren Umfragen eine Ablehnung der Verfassung. Gleiches gilt für die bisherigen europäischen Musterschüler, die Luxemburger, die im Juli zu den Urnen gerufen werden. Kaum verwunderlich ist dagegen, dass die Briten, die im ersten Halbjahr 2006 abstimmen, ebenfalls negativ eingestellt sind.

Diese Zitterpartien in der Union hätte man sich sparen können, wenn man sich auf ein einheitliches Datum in allen zehn Ländern, in denen ein Referendum vorgesehen ist, geeinigt hätte. Damit hätte man verhindert, dass an den Urnen über andere Themen abgestimmt wird, etwa über die weithin kritisierte Regierungspolitik von Ministerpräsident Jean-Pierre Raffarin in Frankreich oder über die Einwanderungspolitik in den Niederlanden. Es wäre auch eine Blockade der Politik in den jeweiligen Ländern und in der EU insgesamt verhindert worden. Denn ein Kompromiss im schwelenden EU-Finanzstreit ist erst nach den beiden Referenden möglich, vorher gilt es Rücksicht zu nehmen.

Noch besser wäre gewesen, alle Bürger in allen 25 EU-Staaten an einem bestimmten Tag über die Verfassung abstimmen zu lassen. Denn schließlich soll die neue EU-Verfassung mehr Transparenz und Bürgernähe bringen. Dies hätte die einmalige Chance geboten, den Bürgern auf verständliche Weise klar machen zu müssen, worum es eigentlich geht: dass etwa die Entscheidungsfindung erleichtert wird und die europäische Außenpolitik mit Solana ein Gesicht und mehr Gewicht bekommen soll.

Die bereits erfolgte Abstimmung in Spanien, die ein positives Votum erbracht hat, und der engagiert geführte Kampf der Gegner und Befürworter in Frankreich haben eine intensive Debatte über die Verfassung und die Zukunft Europas bewirkt. Die Diskussion war viel massiver als in Ländern wie Österreich, wo Nationalrat und Bundesrat über die Annahme der Verfassung entschieden haben und keine breite Debatte in der Öffentlichkeit stattfand. Es hat auch den Anschein, als ob hier zu Lande Politiker gar nicht daran interessiert sind, da sie dann für das europäische Projekt werben müssten. Schimpfen und Abschieben auf Brüssel ist dagegen viel einfacher.

Dabei ist das Volk - genauer dessen Vertretung in Form der EU-Abgeordneten - der Hauptverlierer, sollte das EU-Referendum in Frankreich oder - noch schlimmer - auch in den Niederlanden scheitern. Denn die EU-Verfassung gesteht dem Parlament mehr Rechte zu. Es ist deshalb sehr verwunderlich, dass sich die EU-Abgeordneten bisher vergleichsweise ruhig verhalten haben.

Sollten in Frankreich tatsächlich die Gegner gewinnen, dann ist es nicht möglich, nach dem Votum in einem Gründungsmitglied des europäischen Einigungsprojekts und gewichtigen EU-Motor einfach zur Tagesordnung überzugehen. Dann wird es eine Debatte darüber geben müssen, wie es mit der Union weitergeht. Sie soll aber nicht nur unter den Politikern geführt werden, sondern dann sollten alle EU-Bürger eingebunden werden. So böte ein negatives Votum in Frankreich eine Chance auf mehr Transparenz und Bürgernähe, die mit der Verfassung eigentlich erreicht werden sollte. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27. Mai 2005)