Bild nicht mehr verfügbar.

Schöner Wohnen in Bert Neumanns Mietzins-WG: Thomas Thieme, Milan Peschel und Martin Wuttke (v. li.) beim Talk.

Foto: APA /Aurich
Nach unfallbedingter Premierenverschiebung punktet Frank Castorfs Volksbühnen-Team bei den Festwochen mit einem wiederum maßlosen, großartigen Dostojewski-Projekt. Im Theater an der Wien dauert "Schuld und Sühne" sechseinhalb Stunden: eine Dramen-Hochbaustelle.


Wien - Zum Schluss war der große Zeiger der unhörbar tickenden Uhr im Theater an der Wien deutlich über die Geisterstunde hinausgeklettert. Rodion Raskolnikow, der existenzphilosophische Mörder aus Fjodor Dostojewskis Feder, war geschlagene sechseinhalb Stunden lang die Sprungfeder des Grauens. Ein kratzbürstiger, vor Ekel girrender Störfaktor der frühen Moderne. Denn in Dostojewskis Roman Schuld und Sühne, geschrieben in den 60er-Jahren des vorletzten Jahrhunderts, erklärt der "ehemalige Student" Raskolnikow - von Martin Wuttke mit geschientem Bruchfinger aufopferungsvoll gespielt - der gesamten Welt den Krieg.

Zum Schauplatz der Auseinandersetzung erklärt er sein euklidisches Gehirn, kraft dessen Vermögen er sich über die Elendswelt der St. Petersburger Huren und zahlungsunfähigen Untermieter erhaben dünkt.

Er löst die Verbrechensfrage bekanntlich wie ein algebraisches Küchenrätsel: Bringe ich die elende Pfandleiherin in der Nachbarschaft einer lächerlichen Geldsumme wegen kurzerhand um, so wird ihr kein Hahn hinterherkrähen. Das absolute Bewusstsein weiß sich der Frage nach dem richtenden Gott glücklich enthoben. Doch die Zerknirschung folgt unweigerlich.

Damit ist das Erkenntnisinteresse von Frank Castorfs bei den Festwochen gastierender Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz fürs Erste umrissen: Denke dir, das Theater stellt noch einmal die großen Seins- und Sinnfragen. Es hetzt, wie gewohnt, die Volksbühnenartisten in die blickdicht gehaltenen Kriechkabinen, deren zotiges, kotzendes, würgendes Innenleben auf dem Videoschirm überm Dach garstig erstrahlt.

Stelle dir vor, Castorf füllt nun zum vierten Mal den kaum verhohlenen Ekel, die altmodischen Ethikfragen nach dem Warum und Wozu jeglichen Handelns, in eine Art Jux- und Jubelkiste. Und klatscht den ganzen, übermenschengroßen Dostojewski-Stoff an die welligen Blech-und fehlfarbenen Pressspanwände eines zweistöckig hochragenden Kommunalka-Wohnbaus, komplett mit Eisenstiege und umlaufendem Geländer. Dem, fast in Griffnähe, auf der mächtigen Drehbühne ein Blechcontainer beigesellt ist, in dem ein Puff, eine Polizeistation, ein videotechnisches Leitwerk traut zu-und ineinander finden (Bühne: Bert Neumann).


Wunsch-Wunderkiste

Längst ist das Castorf-Theater zur Wunsch- und Wunderkiste einer offensiv nostalgischen Moderne geworden. Die wäre des Aufhebens nicht wert - wenn nicht durch das brodelnde Chaos die exakten Verlaufslinien der liberalen Pauperisierung, des neuen europäischen Elends wie kolossal gezackte Schmerzkurven hindurchliefen. Castorfs Theater, das kahlköpfige, wutkeuchende Säuferbeamten (Hendrik Arnst) in versiffte Klobecken hineingreifen lässt, während die Kantinenwirtin (Irina Kastrinidis) im Billigfernseher entgeistert auf Otto-Mühl-Videos starrt ("Wieso, das ist doch modern!?"), paust die Verhaltensweisen der Figuren aus dem Merkheft der zerfallenden Metropolen ab.

Er besitzt einen klaren, illusionslosen Blick auf die Daseinshysterie der Minderkaufkräftigen. Er übt an ihnen Mildtätigkeit, auch wenn das Virtuosentum seiner Schauspieler natürlich unentwegt aus dem Ruder läuft und, küchenmarxistisch gesprochen, Mehrwert produziert.

Castorf stammt mit seiner Dostojewski-Theatralisierungsanstalt - Schuld und Sühne ist der vierte einschlägige Versuch - in direkter Linie vom metropolenschillernden Berliner Agitprop Erwin Piscators in den 20ern ab.

Doch er presst das einmal erreichte Reflexionsniveau in ungeahnte, oft auch schwer bekömmliche Höhen. Seine gewiss nervtötende, gelegentlich auch einschläfernde Kunst beinhaltet mehr: das nach wie vor konkurrenzlose Ensemble des Sprachraums, mit Schwerpunkt auf den entäußerungswilligen Damen (Silvia Rieger, Jeanette Spassova). Wuttke durchläuft Raskolnikows seelische Wandlung und endliche Läuterung als strubbeliger, stelzenbeißender Strotter, der im Verein mit seinem tollpatschigen Freund Rasumichin (Milan Peschel) Mutter und Tochter in St. Petersburg unterbringt.

Letztere (Birgit Minichmayr) zeigt sich als schnoddrige Schönheit vom slawischen Kaufmarkt im Berliner Zickenhorst bestens aufgehoben. Im Strudel der erstaunlich maßstabsgetreu herauspräparierten Handlungsstränge kleben ein seltsam heiliger Wüstling (Bernhard Schütz) und ein paragrafenwürgender Billardstuben-Beau (Kurt Naumann) an Raskolnikows schmutzigen Fersen. Lähmendes Halbdunkel dämpft die Szenerie. Und bereitet den Video-Schirm für die Auseinandersetzung Rodions mit dem Staatsanwalt.

Thomas Thieme lockt den mundwinkelzuckenden Mörder mit der Trägheit eines kugelrunden Reptils in sein Netz, gesponnen aus Jovialität und der Arglist eines Seelenfressers. Dabei, so stellt dieser überbordende, gewiss auch noch nicht fertige, aber dennoch wahnwitzige Abend beeindruckend fest: Mörder "ist" man nicht, sondern wird es aus Überforderung.

Die ausgeharrt hatten, beklatschten daher wohl auch sich und ihr Sitzfleisch. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 27.5.2005)