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Zwischenruf einer von holländischen Tierschützern ins Rennen geschickten Protestkuh: "EU-Verfassung - Muh."

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Die meisten Kommentatoren gehen ohne viel zu überlegen davon aus, dass ein "Ja" der Franzosen zum vorgeschlagenen Verfassungsvertrag der Europäischen Union im Referendum am 29. Mai gut für Europa und die EU wäre. Es gibt jedoch Gründe, an dieser weithin vertretenen Ansicht zu zweifeln.

Das französische Referendum wird über das politische Schicksal des französischen Präsidenten Jacques Chirac entscheiden - nicht über Frankreichs Bekenntnis zu Europa: Falls die Franzosen mit "Nein" stimmen, ist Chirac am Ende. Stimmen sie mit "Ja", so geht er gestärkt aus dieser Abstimmung hervor.

Für Europa wäre eine Schwächung Chiracs eindeutig besser als eine Stärkung, selbst wenn sie eine vorübergehende Verlangsamung beim Tempo der europäischen Integration bedeuten würde.

Chirac praktiziert eine Politik der Schuldzuweisungen und Ausreden. So lahmt die französische Exportwirtschaft laut Chirac nicht etwa, weil Frankreich international immer weniger konkurrenzfähig ist - obwohl dies der Fall ist, insbesondere gegenüber Deutschland. Ursache sei vielmehr der starke Euro. Gleichermaßen nehme das französische Wirtschaftswachstum nicht deshalb ab, weil es Frankreich versäumt hat, die erforderlichen Strukturreformen umzusetzen, sondern weil die Zinsen in Europa zu hoch seien.

Und wer ist nach Ansicht Chiracs schuld daran? Natürlich die Europäische Zentralbank, weil sie es zulässt, dass der Euro zu stark an Wert gewinnt und die Zinsen nicht deutlich genug senkt.

Unglücklicherweise ist dies typisch für den Führungsstil Chiracs: anderen die Schuld geben, sich selbst von der Verantwortung freisprechen und nötige Reformen ignorieren. Jedenfalls ist dies kaum die Art von Führung, die Europa braucht, um in der modernen Welt zu überleben und Erfolg zu haben. Doch genau hiervon wird Europa mehr bekommen, falls die Franzosen mit "Ja" stimmen. Europa würde außerdem weiter von den Interessen der großen Länder dominiert, und die kleinen Länder hätten mit den billigen Plätzen vorlieb zu nehmen.

Insbesondere das Schicksal der deutsch-französischen Achse hängt vom Ausgang des Referendums ab. Ein "Ja" stärkt diese Achse; ein "Nein" schwächt sie.

Dominoeffekt

"Wer würde Chirac folgen, wenn die Franzosen mit Nein stimmen?", fragte kürzlich ein EU-Botschafter in einem Interview. "Selbst Berlin hat Optionen" Aber Berlin wäre keineswegs glücklich über ein "Nein": Falls Chirac fällt, verliert auch Kanzler Schröder das Gesicht - noch mehr als das nach den jüngsten Regionalwahlen bereits der Fall ist. Zwei Vögel wären mit einem Steinwurf getroffen.

Die Aussicht auf ein Wiedererstarken der deutsch-französischen Achse ist ein Grund dafür, warum die Niederländer - die traditionell europafreundlich eingestellt sind, aber ein Europa ablehnen, in dem die kleinen Länder an den Rand gedrängt werden - in ihrem (kurz nach dem französischen anstehenden) Referendum mit "Nein" stimmen könnten, falls Frankreich mit "Ja" votiert.

Ein holländisches "Nein" wäre ein Zeichen der Ablehnung gegen ein korporatistisches, von französischen und deutschen Interessen dominiertes Europa und ein Ausdruck des Protests gegen die unbeliebte konservative und moralistische Politik der Regierung Balkenende.

Aber auch für Osteuropa hängt viel vom Ausgang des französischen Referendums ab. Chirac hat seine Einstellung in Bezug auf die neuen, kleineren Mitgliedsländer eindeutig erkennen lassen, indem er sie, als sie in der Irakfrage nicht mit ihm übereinstimmten, aufforderte, "den Mund zu halten". Erst kürzlich schalt Chiracs Außenminister, Michel Barnier, den rumänischen Präsidenten Traian Barescu, es mangle ihm am nötigen "europäischen Reflex".

Der Grund: Barescu plant, die Wirtschaftspolitik Rumäniens gemäß angelsächsischem Vorbild nach wirtschaftsliberalen Grundsätzen auszurichten, und er strebt eine besondere Beziehung zu den Vereinigten Staaten und Großbritannien an, um die Sicherheit in der Schwarzmeerregion zu erhöhen. Statt sich jedoch dem Willen Frankreichs zu unterwerfen, verbat sich der rumänische Präsident weitere Vorhaltungen der französischen Führung gegenüber seinem Land - ein eindeutiges Zeichen, dass der französische Einfluss selbst in Ländern schwindet, zu denen Frankreich traditionell enge Beziehungen unterhält.

Bedrohter Euro?

Den neueren Mitgliedern der Union aus Osteuropa - die wissen, dass Chirac nicht ihr Freund ist, und die sich mehr zu rapidem wirtschaftlichem Wachstum als zu sozialer Absicherung und staatskorporatistischem Unfug hingezogen fühlen - würde ein französisches "Nein" gut passen.

Schließlich ist mit dem Referendum noch die unausgesprochene Frage über die Zukunft der Europäischen Währungsunion (EWU) und des Euro verbunden. Die Befürworter des Verfassungsvertrags argumentieren, dass seine Ablehnung der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Euro schaden würde. Warum jedoch sollte die EU im Chaos versinken und der Euro dahinwelken, wenn der Vertrag von Nizza weiter in Kraft bleibt?

Auf der Ebene der Währungsintegration ändert der Europäische Verfassungsvertrag - abgesehen vom Wahlverfahren im EZB-Rat, falls die EWU über 15 Mitgliedstaaten hinauswächst - überhaupt nichts. Ein "Ja" andererseits würde einen gestärkten Chirac ermuntern, seine Politik der Reformverweigerung fortzusetzen und dabei die EZB zum Sündenbock zu machen.

Der politische Druck von außen auf die EZB und ihren Präsidenten, Jean-Claude Trichet, die Zinsen zu senken und den Euro schlechtzureden, würde mit Sicherheit zunehmen. Genau das aber dürfte dem Euro viel mehr schaden als eine Ablehnung des Verfassungsvertrages. (Project Syndicate, 2005. www.project-syndicate.org; aus dem Englischen von Jan Neumann/(DER STANDARD, Printausgabe, 25./26.5.2005)