Christoph Zielinski: "Kranke sollten über Kranke urteilen, Gesunde sind sich ihrer Endlichkeit nicht bewusst."

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Krebsspezialist Christoph Zielinski macht sich nicht nur durch Erforschung und Therapie von Tumorerkrankungen einen Namen. Er beschäftigt sich auch mit den sozialen Aspekten dieser zunehmenden Leiden, besonders mit der Ökonomie der Onkologie.

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Wien - Hält der gegenwärtige Trend an, entwickelt sich die westliche Welt zu einer Gesellschaft von Krebskranken. In den USA sterben heute bereits mehr Menschen an Tumoren als an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die bisher noch als Haupttodesursache gelten. Diese Entwicklung zeichnet sich auch in Europa ab. Nach Schätzungen der WHO wird die Zahl an Krebserkrankungen in den nächsten 20 Jahren weltweit um 50 Prozent ansteigen - das sind dann 15 Millionen Fälle im Jahr.

So beängstigend diese Prognose ist, so entmutigend fällt auch die Antwort aus auf die Frage, was dagegen getan werden kann: Nicht sehr viel. Umso mehr müssten sich Gesellschaft und Gesundheitspolitik schleunigst die Köpfe darüber zerbrechen, wie sie dieser Herausforderungen begegnen wollen, konstatiert Krebsforscher Christoph Zielinski, Vorstand der Wiener Uniklinik für Innere Medizin I. Schließlich führe diese Entwicklung zu einer Kostenexplosion in der Behandlung.

Für die steigenden Krebszahlen nennt Zielinski drei Gründe. Da Tumoren vorwiegend Alterserkrankungen sind, steigt ihre Häufigkeit mit der Zunahme der Lebenserwartung. Weiters machen sich die Spätfolgen früherer Sünden in der Lebensführung bemerkbar. Und im Gegensatz zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen "gibt es gegen Krebs keine echte Prävention". Alles, was der Mensch mit einer gesunden Lebensführung erreichen könne, "ist eine Risikominimierung", stellt Zielinski fest.

Was aber ist mit dem oft geäußerten Versprechen von Forschern, sie könnten Krebs eines Tages besiegen? "Ich glaube, die Zeit des Durchschwindelns ist vorbei. Krebs wird es immer geben. Was wir aber tun können, ist den Krebs von einer terminalen Erkrankung in ein chronisches Stadium zu überführen. Unser Ziel muss es sein, das Leben mit Krebs zu verlängern." Diesbezüglich seien gewaltige Fortschritte erzielt worden.

Gezielte Behandlung

Auf und in Krebszellen seien Moleküle identifiziert worden, die für das Fortschreiten der Krankheit verantwortlich sind. Neue Arzneien, teils schon auf dem Markt, teils knapp vor der Zulassung, griffen zielgenau diese Moleküle an. Damit könne man die Signalübertragung in den Krebszellen unterbinden, deren zellulären Suizid auslösen, könne sie den Killerzellen des Immunsystems zur Vernichtung vorführen oder die Nahrungszufuhr zum Krebs verhindern.

Als Beispiel nennt Zielinski den Antikörper Herceptin, der bei Frauen mit metastasiertem Brustkrebs nach Operation die Rückfallhäufigkeit um 52 Prozent verringern und die Lebensqualität um 30 Prozent erhöhen könne. Früher hätten diese Frauen - maximal 25 Prozent aller Brustkrebspatientinnen sprechen auf das Medikament an - acht Monate überlebt, heute überlebten sie bereits bis zu vier Jahren.

Freilich, die neuen Medikamente hätten auch ihren Preis. Herceptin koste pro Frau und Jahr 36.400 Euro - zusätzlich zu den anderen Kosten der Behandlung. Bei gut 4500 neuen Brustkrebsfällen in Österreich macht dies 43 Millionen Euro pro Jahr. Ein anderer Antikörper, der das Überleben von Darmkrebspatienten von vier Monaten auf 33 Monate verlängern könne, koste pro Patient und Jahr zusätzlich 156.000 Euro. Bei etwa 5000 Neuerkrankungen in Österreich macht das 780 Millionen Euro im Jahr. Und wer zahlt?

"Ich bin sehr besorgt, ob unsere Sozialgesellschaft das aushält", gesteht Zielinski. Der Onkologe sieht heute bereits einen Trend zur Entsozialisierung. In Großbritannien sei der Zugang zu einigen Therapien schon an eine Altersgrenze gebunden und in Deutschland werde über einen Schwellenwert nachgedacht: maximal 175.000 Euro für eine Lebensverlängerung um ein Jahr. "So kann und darf es aber nicht gehen", lehnt es Zielinski ab, das Leben und dessen Wert an Alter und Kosten festzumachen. "Außerdem: Wer legt solche Grenzen fest? Wir Ärzte sicher nicht, das geht weit über unsere ethische Kompetenz hinaus." Gesundheit sei eine nationale Anstrengung. Und was müsse die Gesundheitspolitik tun? "Denken, denken, denken."

Zielinski ist sich sicher, dass mit Reformen und Umstrukturierungen im Gesundheitswesen die steigenden Kosten abgefangen werden könnten. So sei es "nicht notwendig, dass im Abstand von 20 Kilometern Spitäler stehen, die alle Leistungen anbieten". Weiters müsse "endlich eine Kostenwahrheit hergestellt werden". Leistungen sollten so honoriert werden, wie sie erbracht wurden, und nicht pauschal und gedeckelt abgegolten werden: Derzeit von einer leistungsorientierten Finanzierung zu sprechen, wie es Verantwortliche gerne tun, sei eine Farce. Die erbrachte Leistung entziehe sich in den meisten Fällen nämlich einer Überprüfung. Was fehle, sei eine eine flächendeckende Kontrolle der Qualität sowohl der Spitäler als auch der Ärzte. Für Österreich im Gesamten könne niemand sagen, welche Therapien für welche Krebspatienten mit welchen Kosten zu welchen Ergebnissen führen. Wie und wo also sparen, warum und was forcieren?

Und noch etwas wichtiges gehörte geändert: "Kranke sollten über Kranke urteilen, denn Gesunde sind sich ihrer Endlichkeit nicht bewusst." (Andreas Feiertag/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25.05.2005)