Zürich/Düsseldorf/Frankfurt/London - Zu den Folgen der Ankündigung von vorgezogenen Neuwahlen in Deutschland durch Bundeskanzler Gerhard Schröder schreiben die internationalen Zeitungen am heutigen Dienstag:

"Tages-Anzeiger" (Zürich):

"Mit seiner spektakulären Ankündigung von Neuwahlen zwingt er (Schröder) nun Deutschland, vielleicht ganz Europa, eine Diskussion über den globalen Standortwettbewerb und die Rolle des Staates auf. Unpopuläre Reformen am Sozialstaat, so sie eine Regierung wirklich durchführen will, brauchen das Einverständnis der Bürgerinnen und Bürger. Diese Legitimation will sich Schröder geben lassen. Er setzt die CDU/CSU aber auch unter Druck, endlich selber Klartext zu reden - bisher hat die Opposition vor allem von der Schwäche der ausgelaugten Koalition profitiert. (...) Dank Schröders Entscheidung kann Deutschland jetzt über eine längst fällige Reformpolitik urteilen. Und kein Bürger wird sagen können, er habe die Konsequenzen seiner Wahl nicht gekannt."

"Westdeutsche Zeitung" (Düsseldorf):

"Vielleicht meinten Schröder und Müntefering mit den 'klaren Verhältnissen' aber auch etwas ganz anderes. Sonnenklar wären die Verhältnisse jedenfalls dann, wenn die Union mit CDU-Chefin Merkel an der Spitze die Bundestagswahl gewinnt, so wie jetzt zu erwarten ist. Die SPD könnte sich dann in der Opposition regenerieren und in Ruhe Kurs und Köpfe suchen. Was aber wäre von einer solchen Volkspartei zu halten, die in Wahrheit gar nicht mehr regieren will? Wer soll dafür Wahlkampf machen? Und welcher Wähler ließe sich von einem solchen Konzept beeindrucken?"

"Frankfurter Neue Presse":

Wenn keine unerwartete Hilfe von außen kommt (wie 2002 die Flut und der Irak) - wird die SPD bei Neuwahlen im September keine realistische Siegchance haben. Dass sie den Urnengang zu einer Richtungsentscheidung stilisiert, würde nur Sinn machen, wenn sie in sich geschlossen mit einem lebendigen rot-grünen Projekt vor den Wähler treten könnte. Mit der Frage: Wollt ihr uns oder die schwarze Republik? Doch die SPD ist ja in sich selbst heillos zerstritten. Der Vorstoß für Neuwahlen dient nur dazu, die Partei davor zu bewahren, sich im Richtungskampf zwischen Reformern und Traditionalisten vollends zu zerfleischen. Sie soll geordnet in die Opposition gehen. Bei der jetzigen Ausgangslage weiß der Wähler ja gar nicht, wen er wählt, wenn er sich im September für die SPD entscheiden wollte: Schröder oder Müntefering, Clement oder Nahles, Steinbrück oder Schreiner bzw. sogar doch wieder Lafontaine? Mit einem Sieg für Rot-Grün würde der ganze Schlamassel wieder von vorne losgehen.

"The Guardian" (London):

"Schröder ist ein großer Überlebenskünstler, wie er 2002 bewiesen hat, als ihn eine Kombination aus Hochwassermanagement und seiner antiamerikanischen Haltung in der Irak-Politik vor einer Niederlage bewahrte. Aber das beharrliche Ausbleiben wirtschaftlichen Wachstums in Verbindung mit den starken Vorbehalten seiner eigenen Anhängerschaft gegen sein - dringend benötigtes - Paket zur Reform des Arbeitsmarktes wird ihn nun wahrscheinlich zu Fall bringen. Selbst der farblosen CDU-Führung dürfte es dieses Mal nicht gelingen, sich um den Sieg zu bringen. Leider."

"The Daily Telegraph" (London):

"Die Niederlage der SPD in Nordrhein-Westfalen markiert einen tiefen Einschnitt in die deutsche Nachkriegsgeschichte. Da ist es kaum überraschend, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder sich entschieden hat, die Bundestagswahl um ein Jahr vorzuziehen. Er wird die Christdemokraten im Wahlkampf wahrscheinlich als Thatcheristen darstellen, die den deutschen Sozialstaat zerstören wollen. Dieser Vorwurf gegen die deutschen Konservativen ist absurd. Sie mögen die Reformen mit größerem Nachdruck vorantreiben, als es die SPD bisher getan hat, aber das ist noch kein Radikalismus.

Wie steht es um die Persönlichkeit der beiden Spitzenkandidaten? Hier ist Herr Schröder im Vorteil, ein sympathischer Mann mit farbiger Vergangenheit. Dennoch verdient Merkel als Kanzlerin eine Chance, weil Schröder seine Wahlversprechen, die Wirtschaft zu beleben und die Arbeitslosigkeit zu senken, wiederholt gebrochen hat. Nach seinen eigenen Maßstäben hat er versagt - und sollte deshalb abgewählt werden."

"Iswestija" (Moskau):

"Gerhard Schröder, der als engster Verbündeter Wladimir Putins im Westen gilt, wird sein Amt wohl verlieren. Das kann für Russland unangenehme Folgen haben. Unter Schröder bildeten Moskau, Berlin und Paris eine Einheitsfront gegen den Irak-Krieg. Schröder galt als wichtigster Lobbyist russischer Interessen in der Europäischen Union. Unter Schröder hielten die Führer Russlands und Deutschlands engeren Kontakt als je zuvor in der Geschichte beider Länder - sie trafen sich formell, informell, mit den Familien. (...) Alles läuft auf ein Ende der Vorzugsbehandlung in den deutsch-russischen Beziehungen hinaus. Die neue Kanzlerin wird kaum so oft und so eng Kontakt mit Putin halten."

"Kommersant" (Moskau):

"Die Neuwahl auf Vorschlag Gerhard Schröders wird ihn wohl sein Amt kosten. Wir sind daran gewöhnt, dass Politiker sich anders verhalten. Es gilt als normal, dass ein Präsident oder anderer Amtsträger an seinem Posten klebt wie eine Klette. (...) Doch der entschlossene Schritt kann Schröder neue Anhänger bringen. Selbst wenn er verliert - was sehr wahrscheinlich ist -, ist das keine Schande. Als Politiker gewinnt er die Reputation, dass er die Meinung des Volkes achtet und nicht an seinem Amt hängt. Das schließt sogar eine Rückkehr 2009 nicht aus, nach vier Jahren Herrschaft der Christdemokraten mit der nicht eben charismatischen Angela Merkel."

"Le Monde" (Paris):

"Wenn Bundeskanzler Gerhard Schröder bis zum regulären Ende der Legislaturperiode gewartet hätte, dann wäre er das Risiko einer schmerzlichen Agonie eingegangen. Mit dem Umstürzen des Zeitplans erwischt er die christdemokratische Opposition auf dem falschen Fuß. Ihr bleibt auf die Schnelle keine andere Wahl, als ihre Vorsitzende Angela Merkel zur Kanzlerkandidatin zu machen. Schröder glaubt zu Recht oder zu Unrecht, dass er dieses Duell gewinnen kann, wenn die Konjunkturerholung der letzten Wochen noch einige Monate andauert.

Für Europa ist die beginnende Periode der Unsicherheit in Deutschland keine gute Nachricht. Die Christdemokraten sind sicher genauso europäisch wie die Sozialdemokraten oder die Grünen. Doch die künftige deutsche Regierung gleich welcher Couleur wird nicht sofort in der Lage sein, dem Aufbau Europas die neuen entscheidenden Impulse zu geben, die es dann nötig hat. Vor allem, wenn die Gegner der EU-Verfassung bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gewinnen. Von der kommenden - britischen - EU- Präsidentschaft wird man keine eigenen Initiativen erwarten können, um das Verfassungsprojekt wieder in Gang zu bringen."

"Le Figaro" (Paris):

"Gerhard Schröder kämpft nach der Wahlniederlage in seiner regionalen Hochburg jetzt mit dem Rücken zur Wand um sein politisches Überleben. Mit der Ankündigung vorgezogener Bundestagswahlen in vier Monaten hat er für allgemeine Verblüffung gesorgt. Die Überraschung hat sogar das Ausmaß der Niederlage in Nordrhein-Westfalen übertroffen. Dabei wäre es eigentlich logisch, auf eine Verbesserung der Konjunktur zu warten, bevor man sich den Wählern stellt. Schröders fehlende Popularität wird kaum in vier Monaten zu verbessern sein. Abgesehen von einem Überraschungscoup ist schwer vorstellbar, wie Schröders Flucht nach vorn ihn vor einer angekündigten Katastrophe retten könnte."

"De Volkskrant" (Den Haag):

"Kann Schröder die Wähler noch überzeugen, auch wenn er ohne amerikanischen Buhmann auskommen muss? Und um was soll es im Wahlkampf gehen? Wird der Bundeskanzler die Notwendigkeit weiterer zum Teil unpopulärer Reformen des Wohlfahrtsstaats betonen oder greift er auf alte SPD-Parolen zurück? Im Hinblick auf Schröders bisheriges Auftreten muss man befürchten, dass es von allem etwas sein wird.

Auch für Europa ist dies keine ermutigende Aussicht. Alle Vorstellungen über ein Aufblühen der europäischen Wirtschaft verflüchtigen sich, wenn Deutschland nicht vorankommt. Dazu ist politische Willenskraft nötig, und die springt weder bei der unwilligen SPD noch bei den mit undeutlichen Alternativen jonglierenden Christdemokraten ins Auge."

"De Telegraaf" (Den Haag):

"Schröder will mit der vorgezogenen Bundestagswahl auch verhindern, dass die radikale Linke versucht, den Kurs seiner Partei zu ändern. Daneben setzt er auf Unruhe bei der CDU/CSU, wo nicht jeder glücklich ist mit Parteichefin Angela Merkel und wo auch unterschiedlich über die erforderlichen Reformen gedacht wird.

Der Sprung nach vorn stellt ein riskantes Spiel von Schröder dar. Zugleich ist dies aber auch der einzige Weg, um zu verhindern, dass in Deutschland zu lange nicht regiert wird."

"Berlingske Tidende" (Kopenhagen):

"Als Kanzler Gerhard Schröder 1998 antrat, stellte er als Erfolgskriterium für sich selbst auf, die rekordhohe deutsche Arbeitslosigkeit zu senken. In den sieben Jahre bis jetzt ist sie stetig weiter gewachsen. (...) Über mehrere Jahre war Schröder der Kanzler, der nichts getan hat. 2002 gewann er die Wahl nur durch eine Mischung aus Anti-Amerikanismus und gut inszenierter Sympathie mit deutschen Flutopfern.

Seitdem ist er der Kanzler, der mit Reformen zwar weiterzugehen wagte, als die meisten erwarteten, aber nicht in der Lage, die Entwicklung zu wenden, die Deutschland und auch Europa so negativ und viel zu lange geprägt hat. (...) Es wird wohl kaum Zeit bleiben, die Lage noch bis zu den Wahlen zu ändern, die der letzte verzweifelte Schachzug des Kanzlers zu sein scheinen, ehe das Matt Wirklichkeit wird."

"Svenska Dagbladet" (Stockholm):

"Schröders politischer Mut hat wenig Rendite gebracht. Das Wirtschaftswachstum hat sich verweigert, während die Arbeitslosigkeit noch zunahm, als man etwas zu tun begann. (...) Nach etlichen Wahlniederlagen war ein Sieg in Nordrhein-Westfalen unabdingbar für Schröder. Nun wiegt die Niederlage auch bundespolitisch äußerst schwer. (...) Das hat CDU-Chefin Angela Merkel in eine politische Traumposition gebracht. Ihre innerparteiliche Stellung wurde gestärkt, während die Widersacher zersplittert sind.

Aber man soll nie Siege im Voraus für sicher halten. Vor allem nicht, wenn es um so viele Protestwähler geht. Nun muss die Zeit für gute Argumente dazu genutzt werden, warum Deutschland eine offene und dynamische Wirtschaft braucht."

"Nepszabadsag" (Budapest):

"Wenn die (deutsche) Gesellschaft (...) die CDU wählt, dann ist der von der SPD versuchte 'dritte Weg' endgültig gescheitert. Dann bleibt den Sozialdemokraten nichts anderes übrig, als dass sie aus der bequemen Oppositionsrolle heraus versuchen, eine Politik auszuarbeiten, die (soziale) Solidarität und Erwartungen des Marktes irgendwie im Gleichgewicht hält. Oder, dass sie zum früheren militanten Antikapitalismus zurückkehren. In diesem Fall steht zu befürchten, dass nicht nur Schröder und die SPD (politisches) Harakiri begehen, sondern auch Deutschland, das bisher von der europäischen Integration und von der globalen Wirtschaft größtenteils profitiert hat."

"Delo" (Laibach):

"Vorgezogene Neuwahlen sind für den deutschen Kanzler der rettende Strohhalm, mit dem er seine Wähler mobilisieren und nach langer Zeit in der Defensive wieder in die Offensive kommen will. Als pragmatischer Politiker und gewiefter Taktiker wird er in den kommenden drei, vier Monaten das zu ersetzen versuchen, was er in den vergangenen Jahren verloren hat. Ein Spiel um Alles oder Nichts. (...) Jetzt aber helfen weder Neuwahlen noch ein Abrücken von der zu liberalen Politik. Der Kanzler hat seine Gelegenheit verpasst. (...)

Vor drei Jahren hatte er um ein Haar seinen Herausforderer Edmund Stoiber besiegt, als er sich die Gegnerschaft der amerikanischen Invasion im Irak ausnützte und damit die entscheidenden Punkte gutmachte. Aber nun ist kein Krieg in Sicht. Sein Zerwürfnis mit George Bush war nach Ansicht von Anhängern ein historischer Schritt, der zur Loslösung Deutschlands und ganz Europas von (zu großem) amerikanischem Einfluss beigetragen hat. Der Kanzler stellt nun gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac den Kern des alten Kontinents dar. Daher wird sein erwarteter Abschied und die Ankunft der Konservativen, die weder den neuen EU-Staaten und zusätzlichen Erweiterungen besonders zugeneigt sind - sicher nicht ohne Auswirkungen auf die gesamte EU bleiben."

"Dnevnik" (Laibach):

"Schröder und seine Sozialdemokratie versuchen durch vorgezogene Wahlen zu retten, was zu retten ist - nämlich eine starke Opposition zu bleiben, bevor sie sich endgültig in der sozialen Frage spaltet, worauf der linke Parteiflügel schon seit längerer Zeit hinarbeitet. (...)

Es handelt sich aber auch um ein sehr zwiespältiges Signal an die französischen Wähler, die diesen Sonntag die EU-Verfassung zu bewerten haben und dies mit ihrer derzeitigen sozialen Lage und der Unzufriedenheit mit der Regierung zusammen bringen. Auch wird (durch die deutschen Neuwahlen) ein Schleier über die künftige europäische Finanzperspektive gebreitet. Der Kollaps der deutschen Sozialdemokratie muss aber nicht ein schwarzes Szenario für die europäischen Wohlfahrtsstaaten sein. Die vorgezogenen deutschen Wahlen sorgen vielleicht rechtzeitig für eine Durchlüftung des europäischen ökonomischen und politischen Systems."

"Eine Fortsetzung der politischen Unsicherheit zumindest bis in den Herbst 2006 wäre außer für Deutschland auch für ganz Europa sehr schädlich. Deshalb wäre ein Vorziehen der Bundestagswahlen und eine Klärung der politischen Situation schon im kommenden Herbst höchst wünschenswert. Experten sind weitgehend der Meinung, dass die CDU und eine Regierung Merkel ein ähnliches Krisenpaket wie Schröders Regierung durchziehen müsste, wahrscheinlich sogar noch um eine Stufe strenger."

"La Tribune" (Paris):

"Ein guter Europäer zu sein zahlt sich heute wirklich nicht aus. Nehmen wir Gerhard Schröder: Er ist abgestraft worden und dies hat den Zug der Reformen, den der Kanzler eher mutig in Bewegung gesetzt hat, jäh gestoppt. Dieser setzt nun alles auf eine Karte, indem er sich für vorgezogene Neuwahlen entscheidet. Und dies mit einer Aufgabe, die schier unlösbar erscheint, denn Gerhard Schröder ist nun hin- und hergerissen zwischen der Fortsetzung des Reformkurses und dem von seiner Partei geforderten Ruck nach links. (...) Und all dies kommt mitten in der französischen Debatte über das Verfassungs-Referendum, was die Aufgabe der Verfechter des 'Ja' nicht gerade erleichtert."

"La Repubblica" (Rom):

"Sie hat eine komplexe und atypische Persönlichkeit, diese 50-Jährige mit Universitätsabschluss in Physik, die Schnellkurse in Französisch belegt, um auf neogaullistischen Kongressen zu sprechen, die die Oper und die rustikale Küche liebt und die von den Deutschen einen 'gesunden Nationalstolz' und 'den Mut zu harten Reformen' fordert - und die in vier Monaten die erste Frau an der Spitze Deutschlands sein könnte. Eine Frau zu sein und dazu noch aus dem armen und benachteiligten Teil des Landes zu stammen, sind eher Nachteile als Vorteile.

Angela Merkel hat schon früh, als Heranwachsende, ihren hartnäckigen Willen gezeigt, sich durchzusetzen. (...) Dabei hat sie nicht den dogmatischen Eifer von Margaret Thatcher. Und sie hasst es, mit dieser verglichen zu werden - obwohl ihr beim Versuch, dem Land zum Aufschwung zu verhelfen, eine ähnliche Rolle als konservative Revolutionärin mit weichen Zügen zufallen könnte."

"Trouw" (Den Haag):

"In der SPD setzen manche nun auf ein mehr linksorientiertes Programm, wie es sich in den letzten Wochen schon mit dem SPD-Angriff auf 'asoziales Verhalten von Unternehmen' zeigte. So etwas kann vielleicht einige Wählergruppen ansprechen, aber dies ist nicht, was Deutschland braucht. Im Hinblick auf das Ausmaß der Probleme müssen Gewerkschaften, Arbeitgeber und Politiker vielmehr enger zusammenarbeiten. Eine solche Dynamik hat Schröder in den sieben Jahren, die er an der Spitze stand, leider nie schaffen können." (APA/dpa/AFP)