Berlin - Nach der Entscheidung von Bundeskanzler Gerhard Schröder und SPD-Chef Franz Müntefering, die Bundestagswahl in Deutschland auf den Herbst vorziehen zu wollen, fordern Politiker aus beiden Regierungsparteien auch eine inhaltliche Neuausrichtung. Das SPD-Präsidiumsmitglied Andrea Nahles sagte am Montag, in der Wirtschafts- und der Sozialpolitik müsse es Veränderungen geben. Auch der Grünen-Vorsitzende Reinhard Bütikofer forderte eine Neuaufstellung der rot-grünen Koalition.

Führende SPD-Politiker zeigten sich zuversichtlich, dass die Parteigremien Schröder und Müntefering folgen würden, als Konsequenz aus der Wahlniederlage im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen Neuwahlen im Bund um ein Jahr vorzuziehen. In der Union verdichteten sich die Anzeichen, dass CDU-Chefin Angela Merkel Schröders Herausfordererin wird.

"Auf jeden Fall brauchen wir eine Neuausrichtung in der Wirtschafts- und Sozialpolitik", sagte Nahles. Die Reformpolitik müsse ein sozialeres und das Wachstum stärkende Profil erhalten, forderte sie in Interviews. Der Vize-Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Michael Müller, forderte im ZDF eine Fortsetzung der Kapitalismus-Debatte, mit der die SPD in den vergangenen Wochen versucht hatte, die Stimmung zu ihren Gunsten zu drehen. "Wir brauchen ein inhaltliches Thema, das eine Kontroverse zur Opposition deutlich macht. Und das ist aus meiner Sicht die Fortsetzung der Kapitalismuskritik", sagte Müller.

Auch beim Grünen Koalitionspartner wurde am Tag nach der Nordrhein-Westfalen-Wahl eine Neubestimmung des politischen Kurses debattiert. "Es ist auch für Rot-Grün ein Umdenken erforderlich", sagte Bütikofer im ZDF. SPD und Grüne müssten nach der Wahlniederlage miteinander reden, wie die Balance zwischen wirtschaftlicher Erneuerung und sozialer Gerechtigkeit aussehen solle. Co-Chefin Claudia Roth kündigte eine Fortsetzung der Reformpolitik an. Zugleich würden die Reformen auf ihre Auswirkungen überprüft. Die Grünen werden nach Einschätzung des deutschen Umweltministers Jürgen Trittin mit Außenminister Joschka Fischer als Spitzenkandidat in den Wahlkampf gehen. "Darauf würde ich wetten", sagte Trittin gegenüber der "Sächsischen Zeitung".

Das SPD-Präsidium wird nach Einschätzung des Vize-Parteivorsitzenden Kurt Beck am Montag den Vorschlag Schröders für Neuwahlen unterstützen. "Ich gehe fest davon aus, dass das alle so sehen wie ich: Das ist ein Befreiungsschlag, und wir bringen die Aktivität wieder auf unsere Seite", sagte Beck gegenüber dem "Tagesspiegel". In Berlin beraten am Montag die Parteigremien über Konsequenzen aus den SPD-Plänen für eine vorgezogene Bundestagswahl.

In der SPD gibt es unterdessen massive Kritik an der Entscheidung der Parteispitze für angestrebte Neuwahlen. "Ich finde es nicht in Ordnung, dass der Bundeskanzler und der SPD-Parteivorsitzende eine einsame Entscheidung getroffen haben", sagte die SPD-Linke Sigrid Skarpelis-Sperk am Montag im ZDF-Morgenmagazin. "Wir hätten eigentlich Zeit gebraucht, um zu überlegen, was die neunte Wahl-Niederlage der SPD in Folge für unseren weiteren Kurs bedeutet." Man dürfe jetzt nicht "mit einem 'Weiter so'" in die Wahlen gehen, erklärte Skarpelis-Sperk und forderte Kurskorrekturen. SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter verteidigte das Vorgehen der Parteispitze bei der Entscheidung für Neuwahlen. (APA/Reuters/AP)