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Zum zweiten Mal (nach "Rosetta", 1999) freuen sich die Brüder Luc (li.) und Jean-Pierre Dardenne über eine Goldene Palme ...

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...- für "L'Enfant" mit Jérémie Renier (re.).

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Der Impuls: Zwei Filmemacher, die ein junges Mädchen mit einem Kinderwagen beobachten. "Wir sahen, wie dieses Kind ziellos seiner Wege ging, wir fragten uns, wer wohl der Vater des Babys sein mochte, und diese ,Szene' ist uns seither nicht mehr aus dem Kopf gegangen."

Wenn die Goldene Palme auch nur halbwegs Werbewirkung zeitigt, so wird dieses Bild der Ausgesetztheit und Rastlosigkeit wohl auch ein internationales Kinopublikum lange verfolgen: L'enfant, dem jüngsten Film des belgischen Brüder- und Künstlerpaars Jean-Pierre und Luc Dardenne wurde völlig zu Recht der Hauptpreis der 58. Filmfestspiele in Cannes zugesprochen. In harter Dialektik zwischen einem nüchternen Blick auf "unmoralische" Verhältnisse unter jugendlichen Kleinkriminellen und einer immensen Präsenz ziehender, schiebender, flüchtender Körper erzählt L'enfant die Geschichte eines Vaters, der sein Kind verkauft - und vielleicht selbst (noch) jenes Kind ist, auf das der Filmtitel anspielt.

Anders als im Vorjahr, wo mit der Preisvergabe Michael Moores Fahrenheit 9/11 eher ein politisches Statement als eine künstlerische Bewertung erfolgte, hat die diesjährige Wettbewerbsjury unter dem Vorsitz von Emir Kusturica tatsächlich ein Meisterwerk prämiert. Sie hat ein Interesse für jugendlichen Lebenswelten bekundet, in einem Wettbewerb, der von etablierten, um nicht zu sagen: älteren Herrschaften dominiert wurde - aber wo, so fragte jüngst das US-Branchenblatt Variety, wären denn gegenwärtig die verheißungsvollen jungen Götter von morgen? In den Seitenschienen von Cannes sah man sie nicht.

Alternde Einzelgänger

Die Dardennes, selbst schon in den 50ern, erliegen jedenfalls noch nicht dem, was viele Filmemacher ihrer Generation umzutreiben scheint: Nicht nur Wim Wenders imaginierte in Don't Come Knocking Kinderwünsche, Selbstmitleid und Ängste eines alternden Einzelgängers (Samn Shepard). Auch Jim Jarmusch wandelte mit Bill Murray und Broken Flowers auf ähnlichen Pfaden. Er tat es nur ungleich souveräner und selbstironischer als der mittlerweile kaum noch eine Peinlichkeit vermeidende Wenders - und letztlich wurde Jarmusch mit dem Großen Preis der Jury wohl auch ein wenig für ein gelassenes bisheriges Lebenswerk ausgezeichnet, innerhalb dessen er sich wohl auch einmal so etwas wie heitere Melancholie leisten kann.

In Ordnung ging also, wie überhaupt die meisten vergebenen Auszeichnungen (siehe unten) der Regiepreis für den österreichischen Filmemacher und Autor Michael Haneke: Sein Thriller Caché dürfte die Jury ähnlich gespalten haben wie auch die Kritik (aber das ist bei Haneke ja nun wirklich nichts Neues), und tatsächlich ist hier einmal mehr die filmische Gestaltung (wie immer bei Haneke) die wesentliche Stärke. Haneke, der wohl schon geahnt hatte, dass sein harter, provokativer Blick auf Medien und Gesellschaft bei Künstlern wie Kusturica oder dem Jurymitglied Agnès Varda nur bedingt auf Gegenliebe stößt - er kommentierte den Preis gelassen: "Man darf nicht überbewerten: Jede Jury ist ein Zufallsprodukt und dadurch ist auch bei so einem Preis viel Zufall dabei. Jeder Preis ist willkommen."

Nachwuchsprobleme

Nun, im Prinzip ist auch jeder Festival-Wettbewerb ein Zufallsprodukt. Heuer stellte sich aber doch mehrfach die Frage, ob es tatsächlich Alternativen zur diesjährigen Parade der alten Meister gegeben hätte. Ob man nicht sogar diesen relativ gut besetzten Wettbewerb wie überhaupt das Festival um zwei, drei Tage verkürzen hätte können. Donnerstagabend war die Sache eigentlich gelaufen. Am Sonntag zeigte man zum Abschluss nur Best-of-Wiederholungen.

Und noch ein "Trend" bestätigte sich in diesem Jahr: Für Hollywood ist Cannes kaum noch ein relevanter PR-Markt. Wenn George Lucas Star Wars: Episode 3 an der Croisette präsentierte, war dies keineswegs ein Exklusiv-Event. Steven Spielberg und Tom Cruise war das Festival trotz des kommenden Blockbusters Krieg der Welten keine Reise wert. Man beschränkte sich auf eine Plakataktion. Das immer noch wichtigste Filmfestival der Welt wird sich einiges überlegen müssen, um seine Marktführerschaft weiter zu legitimieren. (DER STANDARD, Printausgabe, 23.05.2005)