Paris - Der Philosoph Paul Ricoeur, einer der größten französischen Denker des 20. Jahrhunderts, ist tot. Ricoeur starb im Alter von 92 Jahren in Chatenay Malabry, wie der mit ihm befreundete Philosoph Olivier Abel am Samstag in Paris mitteilte. Präsident Jacques Chirac würdigte Ricoeur als "anspruchsvollen Denker der Moderne, der keiner ihrer Herausforderungen von der Bioethik bis zur Ökologie ausgewichen" sei. Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabres sagte, es sei Ricoeurs "Hauptvermächtnis, Ethik und Politik im Geiste Hannah Arendts versöhnt zu haben".

Der protestantische Denker war geprägt vom Zweiten Weltkrieg, den er in deutscher Kriegsgefangenschaft in Pommern verbrachte. Sein Leben lang befasste er sich mit Fragen der Freiheit und Toleranz. Dabei nahm er gegen Totalitarismus und Kriege von Algerien bis Bosnien Stellung. Ricoeur sei "ein sehr großer Philosoph der Tat, aber auch ein großer Philosoph der Literatur" gewesen, sagte Abel.

Der 1913 in Valence geborene Ricoeur stand vor dem Krieg den christlichen Sozialisten nahe. In Kriegsgefangenschaft übersetzte er Werke deutscher Philosophen. Er war geprägt von Edmund Husserl, Karl Jaspers und auch Martin Heidegger, zu dem er aber - anders als viele andere französische Intellektuelle - Distanz hielt. Nach dem Krieg lehrte Ricoeur an Universitäten von der Pariser Sorbonne über Löwen (Belgien) bis Yale (USA).

An der Reform-Uni Nanterre bei Paris wurde Ricoeur während der Studentenrevolten heftig auch körperlich von linken Studenten attackiert, bis er 1970 als Doyen zurücktrat und in die USA ging. Dort wirkte er 22 Jahre an der Universität Chicago und verband die amerikanische Denkart mit der deutschen und französischen. Das habe ihm "das Leben gerettet", sagte Ricoeur. Zuletzt beschäftigte er sich mit den Beziehungen zwischen der Geschichtsauffassung der Historiker und der Zeitzeugen.

Ricoeur schlug die Brücke von der Linguistik zur Theologie, Literatur, Geschichte und Psychoanalyse. Er zählt zu den wenigen bedeutenden Denkern außerhalb Deutschlands, die hermeneutische Positionen zur Begründung der Humanwissenschaften entwickelt haben. Ricoeur wurde unter anderem mit dem Hegel-Preis und dem Karl-Jaspers- Preis ausgezeichnet. Zu seinen Hauptwerken zählen "Geschichte und Wahrheit" (1955) und "Gedächtnis, Geschichte, Vergessen" (2000), die Trilogie "Philosophie des Willens" (1950-61), "Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen" (1969) und "Die Semantik der Aktion" (1978). (APA/dpa)