derStandard.at: Wie wird die EU reagieren, sollte das französische Referendum zur EU-Verfassung am 29. Mai negativ ausgehen?

Schwarzer: Die EU wird zunächst eine Denkpause brauchen. Erstens müssen die Gründe für das französische Nein analysiert und politisch beantwortet werden. Zweitens muss die EU Bestandteile der Verfassung, die für ihr Funktionieren unabdingbar sind, auf anderem Wege umsetzen. Denn der Nizza-Vertrag, auf dessen Grundlage die EU weiter funktionieren müsste, ist bereits für die heute 25 Mitgliedstaaten ungeeignet. Daher muss auch diskutiert werden, ob weitere Erweiterungsrunden zurückgestellt werden, bis die EU bereit dafür ist.

derStandard.at: Ist mit einer Wiederholung des Referendums zu rechnen?

Schwarzer: Hierzu müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein:

1) Es muss etwas gefunden werden, das den Franzosen als Antwort auf ihre Bedenken angeboten werden kann. Dafür gibt es historische Beispiele: Dänemark bekam im Zuge des Maastricht-Vertrags ein Opt-Out aus der Währungsunion, die Iren konnten beim Nizza-Vertrag in der Außenpolitik nachverhandeln. Die französische Bevölkerung fordert eine Stärkung der sozialen Dimension der EU. Dies kann im Rahmen der EU oder auch nur in der 12er Gruppe der Währungsunion verwirklicht werden. Allerdings müssten dazu einige Länder, inklusive Deutschlands, über ihren eigenen Schatten springen.

2) Die Glaubwürdigkeit der Verfassung muss aufrechterhalten bleiben. Dazu bedarf es am Tag nach dem Referendum eines klaren Committments der anderen Staats- und Regierungschefs. Sagt beispielsweise der britische Premier Tony Blair das britische Referendum ab, würde dies die Verfassung zurückwerfen.

derStandard.at: Dann wäre also ein französisches "Nein" nicht das Ende des Verfassungsvertrages?

Schwarzer: Nein, wenn oben genannte Bedingungen erfüllt sind.

derStandard.at: Droht, wie Raffarin befürchtet, tatsächlich eine Wirtschaftskrise. Wie sehen Sie die Zukunft der EU ohne einen Verfassungsvertrag?

Schwarzer: Eine Wirtschaftskrise wird nicht automatisch ausgelöst, falls die Verfassung in Frankreich durchfällt. Die EU steht in vielerlei Hinsicht auf stabilen Beinen, so dass sie auch ohne Verfassung weiterleben kann. Allerdings: Die Sorgen und Ablehnung der Bürger müssen beantwortet werden, sonst entfernt sich die EU immer weiter von der Bevölkerung und nationale Politik wird verstärkt auf dem Rücken Europas ausgetragen wird. Dies zeichnet sich seit Jahren ab und wird sich verstärken, wenn die Arbeitslosigkeit in der EU weiter steigt.

Diese Tendenz muss umgekehrt werden: Erstens, muss die EU stärker demokratisiert werden, damit die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl verlieren, dass die EU ein unkontrollierbarer Koloss ist, der ihre eigenen Interessen verletzt. Nationalen Politikern wird es dann schwerer fallen, die EU für eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Schon heute hat eine sehr große Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern alltäglich mit und in Europa zu tun. Die direkte Beteiligung an der politischen Gestaltung muss folgen.

Die Intensität der französischen Debatte hat uns gezeigt, dass die Öffentlichkeit bereit ist, sich über die Zukunft der EU Gedanken zu machen. Diese Auseinandersetzung ist gesund, und muss auf europäischer Ebene fortgesetzt werden. Dazu bedarf es neuen Mitbestimmungsmöglichkeiten und Strukturen, wie etwa europäische Parteien. Zweitens muss die Wirtschaft der EU, und noch dringender die der Währungsunion, vorangebracht werden. Dazu muss die Liberalisierung und Europäisierung der Märkte fortgesetzt werden, weil sonst die Währungsunion nicht funktionieren kann. Zweitens muss in der Währungsunion - wie in den USA - ein Mechanismus eingerichtet werden, um die konjunkturellen Unterschiede zwischen einzelnen Ländern abzufangen. Die Währungsunion wurde vor mehr als zehn Jahren auf dem Papier erfunden. Heute wissen wir, wie sie wirklich funktioniert. Daher müssen wir nachsteuern. Geschieht dies nicht, verstärkt sich die momentane wirtschaftliche Krise weiter, die die EU dann auch politische gefährden kann.

derStandard.at: Der deutsche Bundeskanzler Schröder meinte kürzlich bei einem deutsch-französischem Gipfel in Paris, es sei "ganz falsch", darüber nachzudenken "was denn werden würde, wenn etwas schief geht". Warum verbietet sich die Politik, öffentlich über einen Plan B bei einem französischen "Nein" zu sprechen?

Schwarzer: Es ist taktisch klug, nicht öffentlich über einen Plan B zu spekulieren, weil die Bürgerinnen und Bürger sonst aus den Augen verlieren, dass sie mit ihrer Antwort im Referendum große Verantwortung für ihre eigene Zukunft tragen. Trotzdem muss das Krisenszenario natürlich vorbereitet werden. Wenn die Staats- und Regierungschefs auf ein "Non" aus Frankreich mit Sprachlosigkeit reagieren, lassen sie europafeindlichen Kräften politischen Raum. Daher ist es so wichtig, sich mit den Gründen der Ablehnung auseinander zu setzen, und diese in eine zukunftsweisende politische Botschaft umzuwandeln.